Offener Brief

Wenn religiöse Vorschriften über juristischen stehen

Bereits in der Debatte um die Beschneidung vor dem 12. Dezember 2012 hat sich der Jurist Prof. Dr. Rolf Dietrich Herzberg gegen das Gesetz ausgesprochen. Unter anderem mit seinem viel beachteten Aufsatz: "Religionsfreiheit und Kindeswohl – Wann ist die Körperverletzung durch Zirkumzision gerechtfertigt?" mischte er sich in die Diskussion ein. Der hpd veröffentlicht seinen aktuellen Offenen Brief an die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern Charlotte Knobloch.

Sehr geehrte Frau Knobloch!

In der ZEIT vom 21. November 2019 antworten Sie auf Fragen, die Britta Stuff Ihnen stellt. Ich habe das Interview mit besonderem Interesse gelesen, weil meine Beziehung zum Judentum eine besondere und sehr persönliche ist. Das erklärt sich aus einer alten Freundschaft. Sie verband meine Frau und mich mit einem Ehepaar, das sich, bei säkularer Grundhaltung, zum Judentum und manchen seiner Traditionen bekennt. Diese Freundschaft ist, trotz beiderseitigem Bemühen, sie zu retten, am Ende zerbrochen. Der Grund ist meine öffentlich bekundete Überzeugung in einem religiös-ethisch-rechtlichen Streit, der auch uns beide – vielleicht erinnern Sie sich – gegeneinander aufgebracht hat (vgl. Matthias Franz, Die Beschneidung von Jungen, 2014, S. 269).

Jetzt nutzen Sie die Gelegenheit, Ihre Einstellung zur rechtlichen Seite der Beschneidungsproblematik wenigstens anzudeuten. Die Gelegenheit bot Ihnen die humoristische Frage nach dem Gesetz, das Sie mal gebrochen haben. Sie antworten: "Das Gesetz stand nur im Raum, aber wenn, hätte ich mich darüber hinweggesetzt: das Beschneidungsverbot."

Das Verständnis dieses weiten Begriffs verengt sich für die meisten auf das rechtliche Verbot, Kinder ohne deren Einwilligung und ohne medizinische Notwendigkeit durch Abschneiden, Einschneiden oder Durchbohren eine Verletzung am äußeren Geschlechtsorgan zuzufügen. Aber dieses Verbot stand nicht nur im Raum, es war und ist geltendes Recht! Denn Körperverletzungen sind mindestens nach § 223 StGB verboten und strafbar, und das Verbot umfasst selbstverständlich auch Genitalverletzungen. Denken Sie etwa an das Wegschneiden eines Teils der Schamlippen, der Klitoris oder Klitorisvorhaut! Es gibt maßvolle Verletzungen des weiblichen Geschlechtsorgans, die die Gesundheit und das Sexualleben weniger als das Abschneiden der Vorhaut beeinträchtigen. Aber der Gesetzgeber hat sie mit dem neuen § 226a StGB als "Verstümmelung weiblicher Genitalien" sogar zum Verbrechen erklärt ("Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr"). Ein geltendes und besonders deutliches Beschneidungsverbot!

Nun ist mir klar, dass Sie Genitalbeschneidungen, deren Opfer Frauen oder kleine Mädchen sind, genau wie der Gesetzgeber missbilligen und sich über ihr Verbot niemals hinwegsetzen würden. Mit "Beschneidung", die Sie für unverboten halten und deren gesetzliches Verbot Sie nur drohend "im Raum stehen" sahen, meinen Sie wohl allein die rituelle Zirkumzision, die männlichen Säuglingen und Kindern angetan wird.

Ein typisches Beispiel ist der Kölner Fall, den ich hier in Erinnerung rufen will. In Matthias Franz' Sammelband "Die Beschneidung von Jungen" schildert Holm Putzke ihn auf S. 330 f. wie folgt: "Im November 2010 hatte ein in Köln niedergelassener Arzt, Facharzt für Chirurgie und nach eigenen Angaben gläubiger Muslim, mit Einwilligung der ebenfalls muslimischen Eltern eine medizinisch nicht notwendige Beschneidung an einem vierjährigen Jungen durchgeführt, wobei der Eingriff unter örtlicher Betäubung und aus religiösen Gründen stattfand. Obwohl der Arzt – laut eines Sachverständigen – den operativen Eingriff lege artis vorgenommen hatte, kam es zwei Tage danach zu Blutungen … Die Mutter brachte den Jungen in die Kindernotaufnahme der Universitätsklinik Köln, wo ihn ein Urologe unter Vollnarkose operierte und die Blutungen gestillt werden konnten". Die Staatsanwaltschaft erhob Anklage wegen gefährlicher Körperverletzung (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB). Der Arzt wurde jedoch zweimal freigesprochen, sowohl vom Amts- wie vom Landgericht Köln, allerdings mit sehr verschiedener Begründung.

Ich verstehe Sie nun so: Vorgenommen unter bestimmten Voraussetzungen, war auch die medizinisch unnötige Beschneidung männlicher Kinder stets erlaubt. Der Kölner Fall hat jedoch eine Debatte befeuert, die ein gesetzliches Verbot befürchten ließ. Zum Glück ist es nicht zustande gekommen. "Dieses Verbot hätte ich missachtet und mich darüber hinweggesetzt." – Ich räume ein: Ihre Annahme, dass die Beschneidung des Vierjährigen unter den gegebenen Umständen unverboten war, ist diskutabel. Sie lag dem Urteil des Amtsgerichts Köln zugrunde. Der Richter hatte in erster Instanz für Recht erkannt, dass der Arzt bei Begehung seiner tatbestandsmäßigen Körperverletzung gerechtfertigt war. Das war aber eine problematische und fragwürdige Beurteilung. Das Landgericht hat nur den Freispruch, nicht die Begründung bestätigt. Im Einklang mit den meisten einschlägigen Publikationen, die damals schon vorlagen, hat die Kammer trotz allem, was man zugunsten des Arztes ins Feld führen konnte (lege artis, elterliche Einwilligung, religiöser Sinn) die Beschneidung als eine rechtswidrige Körperverletzung bewertet. Freizusprechen sei der Täter nur mangels Schuld, das heißt wegen eines "unvermeidbaren Verbotsirrtums" (§ 17 Satz 1 StGB: "Fehlt dem Täter bei Begehung der Tat die Einsicht, Unrecht zu tun, so handelt er ohne Schuld, wenn er diesen Irrtum nicht vermeiden konnte"). Das Landgericht berief sich damals vor allem auf die Ausführungen Holm Putzkes, der seinen Standpunkt später in Kurzform so begründet hat: Es handelt sich "bei einer medizinisch nicht nötigen Beschneidung eines nicht einwilligungs-fähigen Jungen um eine Körperverletzung … Denn dem Kind wird ein erogener Teil seines Körpers irreversibel amputiert, was nachweislich zu einem Sensibilitätsverlust führt. Dabei erleidet es Schmerzen, was zu Traumata führen kann, und es wird einem beachtlichen Operations- und Komplikationsrisiko ausgesetzt. Dieser Eingriff ist auch nicht gerechtfertigt –weder durch das Erziehungsrecht der Eltern noch durch deren Religionsausübung" (Putzke, in: Matthias Franz, Die Beschneidung von Jungen, S. 325).

Offen lässt Putzke an dieser Stelle die Frage, welche Bedeutung für ihn der sogenannte Beschneidungsparagraph hat. Begründet er die Rechtfertigung? Ende 2012 "in Kraft getreten", bestimmt § 1631d BGB im ersten Satz: "Die Personensorge umfasst auch das Recht, in eine medizinisch nicht erforderliche Beschneidung des nicht einsichts- und urteilsfähigen männlichen Kindes einzuwilligen, wenn diese nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt werden soll".

Die Vorschrift erhebt den Anspruch, die Eltern und den Arzt grundsätzlich zu rechtfertigen, wenn sie, aus welchen Motiven auch immer, eine medizinisch unnötige, aber kunstgerechte Abtrennung der Vorhaut vom kindlichen Penis veranlassen und durchführen. Der gegenwärtige Streit betrifft nun die Frage, ob eine solche ("medizinisch nicht erforderliche"!) Körperverletzung als rechtmäßig bewertet werden kann oder ob diese Bewertung und damit auch § 1631d BGB mit dem Grundgesetz unvereinbar sind. Die Antwort "unvereinbar", die ich in etlichen Publikationen schon gegeben habe, soll diesmal nicht das letzte Wort sein. Aber zunächst: Mir erscheinen die Argumente, die die Beschneidungserlaubnis des § 1631d BGB für unvereinbar mit dem Grundgesetz befinden, so stark und überzeugend, dass der unvoreingenommen Urteilende sie als entscheidend anerkennen muss. "Die unparteiische Betrachtung der Verfassungslage ergibt die Verfassungswidrigkeit des § 1631d BGB", behauptet nach umfassender Begründung, auf die ich mich beziehe, Jörg Scheinfeld in seinem Aufsatz "Die Knabenbeschneidung im Lichte des Grundgesetzes" (Franz, Die Beschneidung von Jungen, S. 358 ff., 391).

Aber das Nachdenken kann mit dieser Feststellung nicht enden. Man hat mir entgegengehalten: Es mag zutreffen, dass auch eine von § 1631d gedeckte Beschneidung Grund- und Menschenrechte des Kindes missachtet und darum eine rechtswidrige Körperverletzung ist. Doch die Rechtswidrigkeit eines Tuns anerkennen, weil das geltende Recht sie ergibt, heißt noch nicht, dieses Recht richtig finden und sich ihm unterwerfen. Das ist die Grundlage Ihrer knappen Antwort, und so muss man Sie verstehen: Es interessiert mich letztlich nicht, ob ihr Juristen aus den Gesetzen, und sei es auch aus dem Grundgesetz, ein Verbot der medizinisch unnötigen Jungenbeschneidung ableitet; selbst wenn ihr damit Recht hättet, würde mir mein Gewissen erlauben, das Verbot zu missachten, weil es, ethisch betrachtet, ein falsches Verbot ist.

Der anfangs erwähnte jüdische Freund hat mir in einem frühen Streitgespräch vor Augen gehalten, wie zutiefst bedenklich es doch sei, wenn man die deutsche Rechtsordnung so verstehe, dass sie den Juden die Brit Mila (die Jungenbeschneidung nach jüdisch-religiösem Brauch) verbietet. Er räume ja ein, dass es starke Gründe gebe, sich davon zu verabschieden, vielleicht durch Rückzug auf eine symbolische Berührung von Messer und Vorhaut. Aber den Verzicht müssten die Eltern aus Einsicht und freier Entscheidung leisten. Ihnen in Deutschland die Beschneidung zu verbieten und sie wegen der Verletzung des Kindes sogar zu bestrafen, sei nach allem, was Deutsche den Juden angetan hätten, eine unerträgliche Anmaßung und Demütigung. Sie, Frau Knobloch, sehen es ähnlich. Menschen, die die fragliche Rechtswidrigkeit bejahen, sind für Sie "geistige Brandstifter, die gegen Juden giften", ohne "Empathie und Sensibilität". Andere Vertreter des Judentums sahen in der sachlichen Beurteilung der Rechtslage "den schwersten Angriff auf jüdisches Leben seit dem Holocaust" und stellten die Behauptung auf, bei einem Beschneidungsverbot sei "jüdisches Leben in Deutschland nicht mehr möglich".

Mir fällt an solchen Äußerungen etwas auf, was bisher kaum beachtet und schon gar nicht hervorgehoben wurde: Die Empörung über ein etwaiges Beschneidungsverbot ist eng begrenzt. Anscheinend hält man das Verbot im Grundsatz für richtig und für falsch nur dann, wenn die Beschneidung die religiöse Weihe der Brit Mila hat und auf der jahrtausendealten Tradition des Judentums beruht. Zum Beispiel die Mädchenbeschneidung! Auch sie hat meist einen kultisch-religiösen Sinn und gilt den schafi'itischen Muslimen geradezu als religiöse Pflicht. Der Zirkumzision entsprechend lassen schafi'itische Eltern auch ihren Töchtern eine Vorhaut abtrennen – die der Klitoris. Die eine Beschneidung zu erlauben und die andere als ein Verbrechen zu verbieten benachteiligt die Jungen im gesetzlichen Schutz und ist ein eklatanter Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 GG). Ausgehend von der Gültigkeit (Verfassungskonformität) des § 1631d BGB fordern deshalb manche, dass in den Grenzen dieser Bestimmung auch Mädchen mit lebenslanger Folge am Genital verletzt werden dürfen, wenn die körperlich-seelischen Auswirkungen voraussichtlich nicht schwerer wiegen als die der Zirkumzision bei Jungen. Sie, Frau Knobloch, würden diese Forderung wohl kaum unterstützen und lieber die Ungleichbehandlung in Kauf nehmen, das heißt festhalten an der umfassenden Strafbarkeit der "Verstümmelung weiblicher Genitalien" (§ 226a StGB).

Ja, ich vermute, dass Sie mit mir gemeinsam auch manche Beschneidung missbilligen würden, die § 1631d BGB sogar legitimiert. Stellen Sie sich vor, ein katholisch-strenggläubiger Arzt mit antiquierter Sexualmoral schneidet seinem Vierjährigen lege artis die Vorhaut ab, um das Masturbieren zu verhindern und so sein Kind vor schwerer Sünde und göttlicher Strafe zu bewahren. Ein religiöser Grund und, wenn man so will, ein erzieherisches Anliegen. Der Arzt mag seine "Religionsausübung" (Art. 4 Abs. 2 GG), die "Pflege und Erziehung" sowie das "Wohl des Kindes" (Art. 6 Abs. 2 GG, § 1627 BGB) zur Rechtfertigung anführen und besonders auf § 1631d BGB pochen, der ihm sein Tun ja ausdrücklich erlaube. Aber Sie werden mir zustimmen, dass es ein schändliches Tun wäre, medizinisch sinnlos und eine blutige Körperverletzung bar jeder rationalen Begründung und Motivation. Ein solcher Angriff auf die Grundrechte des Kindes, auf seine Würde, Persönlichkeit und Körperintegrität ist zumindest moralisch verboten, und nie und nimmer würden Sie sich darüber hinwegsetzen, etwa indem Sie dem Arzt letzte Hemmungen ausreden oder ihm auf seine Bitte assistierend zur Hand gehen.

Was die klassisch-muslimische Jungenbeschneidung betrifft, so bildet der Kölner Fall ja bekanntlich den Ausgangspunkt der Empörung und der Debatte. Der Aussage des Landgerichts, dass der Arzt zwar schuldlos, aber rechtswidrig gehandelt habe, wurde von jüdischer Seite lauter und entschiedener widersprochen, als muslimische Stimmen es taten. Und es ist wahr, die Begründung des Landgerichts hat auch über die Brit Mila den Stab gebrochen. Daraus ergab sich eine Solidarität, die über Unterschiede hinwegsehen ließ. Denn es ist ja ein großer Unterschied, ob der religiöse Mensch einen Akt als ihm von Gott befohlen und als seine heilige Pflicht betrachtet oder nur als eine prophetische Empfehlung, die man schon aus schwachen Gründen missachten darf. Vor allem muss man bedenken, dass das Opfer der Beschneidung hier ein erkenntnisloser Säugling ist und dort ein wissendes Kind, das Angst hat und sich oft verzweifelt wehrt. Darauf angesprochen, gab denn auch im erwähnten Streitgespräch mein jüdischer Freund die muslimische Beschneidung, wenn ältere Kinder sie erleiden müssen, sogleich preis. Er hatte nichts dagegen, sie schon nach geltendem Recht als Unrecht zu bewerten (das Kölner Urteil war damals noch nicht in der Welt). Diese isolierende Betrachtung der Brit Mila macht mir bewusst, dass viele jüdisch-religiöse Menschen eine ganz besondere Bitternis empfanden, als das Landgericht mit dem muslimischen zugleich den biblischen Akt für rechtswidrig befand. Es wurde ein Ritus zum Unrecht gestempelt, den nach jüdischer Lehre der liebe Gott höchstpersönlich zur Pflicht gemacht hat, mit dem Sinn, dass zwischen ihm und dem Kind ein Bund gestiftet werde. Welch eine Zumutung, den nicht mehr stiften zu dürfen! Der Berliner Rabbiner Yitzhak Ehrenberg verkündete öffentlich seine Wahrheit, dass die Versagung des Gottesbundes sogar schlimmer sei als die "physische Vernichtung" des Kindes.

Ich habe bisher einseitig die Leiden des kindlichen Opfers und die handfesten Grundrechteverletzungen herausgestellt, die die Beschneidung ihm zufügt. Mir ist aber klar geworden, dass auch das Verbot und das Verhindern der Beschneidung Leid schafft, wenn auch kein von Grundgesetzartikeln und strafrechtlichen Verboten bekämpftes Leid. Gleichwohl vermute ich, dass im zu erwartenden Fall einer Prüfung des § 1631d BGB das Bundesverfassungsgericht abwägende Überlegungen anstellen und auch dem Gesichtspunkt der politischen Opportunität Raum geben wird. Das liefe hinaus auf eine zutiefst fragwürdige Einschränkung der Grundrechte männlicher Kinder. Ich würde das Urteil, § 1631 BGB sei vollen Umfangs oder weitgehend verfassungsgemäß, für sachlich falsch halten. Aber wie immer das höchste Gericht die Vereinbarkeitsfrage entschiede, es wäre die Entscheidung verantwortungsbewusster Richter in einem Rechtsstaat, und sie hätte "Gesetzeskraft" (§ 31 Abs. 2 Gesetz über das Bundesverfassungsgericht). Die dann geschaffene (neue) Rechtslage – mit ihren Verboten und Gestattungen – würde ich (anders als den ungeprüften § 1631d BGB) achten und mich nicht "darüber hinwegsetzen". Könnte das nicht, sehr geehrte Frau Knobloch, ein Standpunkt sein, der uns verbindet?

Mit freundlichen Grüßen

Ihr Rolf Dietrich Herzberg

Unterstützen Sie uns bei Steady!