Feministische Sexualität findet niemals als Lohnarbeit statt

Was kostet eine Frau?

Zur Prostitution gibt es derzeit keine konsensfähige feministische Position. Für die einen ist Sexarbeit ein Job wie jeder andere, für die anderen ist eine befreite Gesellschaft nur ohne Prostitution denkbar. Das Feministische Bündnis Heidelberg hat zu dieser Frage nun einen Sammelband vorgelegt, der sich eindeutig positioniert. Der hpd sprach mit Hanna Vatter aus der Herausgeberinnengruppe.

In Europa gibt es hinsichtlich der Prostitution sehr unterschiedliche rechtliche Regelungen. Teils ist sie verboten (was eine Kriminalisierung der Prostituierten mit sich bringt), teils ist sie legal (wobei sie dann teils reguliert und teils unreguliert stattfindet). In Deutschland ist Prostitution prinzipiell zulässig, geregelt durch das Prostitutionsgesetz von 2001.

hpd: Euer Buch enthält ein Dutzend sehr unterschiedliche Beiträge: Theorie-Artikel, authentische Berichte, politische Analysen. Allen gemeinsam scheint mir der positive Bezug auf das sogenannten "Nordische Modell" zu sein. Worin unterscheidet sich dieses von der aktuellen Situation in Deutschland?

Hanna Vatter: Die Unterschiede zwischen dem sogenannten Nordischen Modell und der rechtlichen Situation in der BRD sind erstens die Ebene, auf der die Prostitution betrachtet wird, und zweitens wer das Subjekt staatlicher Regulierung ist. 1998 wurde das Nordische Modell in Schweden im Rahmen des Gesetzpaketes "Kvinnofrid" (Frauenfrieden) implementiert. Schon im Namen der Gesetzgebung wird erkennbar, dass die Prostitution nicht als individuelles Problem, sondern als gesellschaftlicher Missstand bewertet wird, der das Geschlechterverhältnis betrifft. Schätzungen zufolge sind in Deutschland 400.000 Personen in der Prostitution tätig. 20.000 davon sind Männer, die – wie die Frauen – Sex an Männer verkaufen. Es handelt sich bei der Prostitution also eindeutig um ein geschlechtsspezifisches Problem.

Prostitution mit all ihrer Frauenfeindlichkeit wird auf der strukturellen Ebene als antiemanzipatorisch behandelt. Der legalisierende deutsche Staat behandelt die Prostitution als eine individualisierte Konfliktlage. Deshalb wurde 2017 das Prostituiertenschutzgesetz (ProstSchG) als Reaktion auf die Erkenntnis eingeführt, dass sich durch die Legalisierung 2002 die Situation der Frauen nicht verbessert hat. Im Gegenteil: Der Menschenhandel – und damit vorwiegend Frauenhandel – zum Zweck der sexuellen Ausbeutung ist angestiegen. Eingeführt wurde 2017 unter anderem die verpflichtende Anmeldung und Gesundheitsberatung.

Und da kommen wir zur zweiten Ebene: das durch die Gesetzgebung adressierte Subjekt. Während das Nordische Modell den Freier durch das Sexkaufverbot daran hindern will, Gewalt gegen Frauen auszuüben, reguliert das ProstSchG das Verhalten der Frau in der Prostitution. Der Staat zwingt sie, einen Hurenpass mit sich zu tragen und verpflichtet sie paternalistisch, sich belehren zu lassen. Als wäre das System Prostitution durch diese Maßnahmen zu einem normalen Job zu machen – als wäre sie nicht in ihren Grundfesten das Symptom einer mächtigen Hierarchie zwischen Frau und Mann.

Wenn das Verhalten der Frauen reguliert und kontrolliert wird, ist die transportierte Botschaft deutlich: Wenn ihr von Gewalt betroffen seid, liegt das nicht an strukturellem männlichem Missverhalten. Ihr Frauen in der Prostitution habt euch nicht richtig an unsere Maßnahmen gehalten. Sexkauf wird hier nicht als Problem einer patriarchalen Gesellschaft, sondern als individuelles, zum Teil tragisches – aber eben "freiwillig" und damit selbstverschuldet gewähltes Schicksal definiert. Deshalb werden auch vorwiegend die Frauen reguliert. Ein gut ausgestaltetes Nordisches Modell hingegen fußt maßgeblich auf der Unterstützung von Betroffenen im Rahmen Sozialer Arbeit, psychologischer und medizinischer Versorgung. Es sollen Alternativen nach der Prostitution ermöglicht werden, aber auch umfassend unterstützt werden, wenn die Frau sich entscheidet, weiter in der Prostitution tätig zu sein. Weiterhin wird durch bildungspolitische Projekte über den sexistischen Kern der Prostitution aufgeklärt. Die Aktivistin und Aussteigerin Huschke Mau vom Netzwerk Ella e. V. hat in unserem Sammelband einen interessanten Artikel zu der konkreten Ausgestaltung und den Vorteilen des Nordischen Modells geschrieben.

Wer einen Blick auf die Diskussionen wirft, die vor 20 Jahren, als das Prostitutionsgesetz zur Debatte stand, geführt wurden, wird fairerweise einräumen müssen, dass schon damals als ein Ziel formuliert wurde, die Stellung von Prostituierten zu verbessern. Hat da irgendetwas nicht funktioniert wie geplant oder liegt dem Gesetz ein Denkfehler zugrunde?

AkteurInnen der rot-grünen Regierung führten 2002 die Legalisierung mit der Begründung ein, die Lebensbedingungen der Frauen in der Prostitution verbessern zu wollen. Sie wollten durch Arbeitsvertrag und Sozialversicherung den Sexverkauf innerhalb des Framings "Lohnarbeit" zu einer weniger gewaltvollen Tätigkeit machen. Allerdings liegt dem Gesetz ein ganz massiver Denkfehler zugrunde. Und zwar die marktradikale Wahnsinnsidee, männlicher Herrschaft mit dem sogenannten "freien Markt" begegnen zu können. Das Gesetz implementiert hatte immerhin dieselbe rot-grüne Regierung, die Deutschland die Agenda 2010 bescherte. Die Gemeinsamkeit beider Novellierungen ist die ideologische Vorstellung der individualisierten, eigenverantwortlich gemachten Arbeitskraft-Unternehmerin. Wer von Armut, Gewalt, Isolation und Krankheit betroffen ist, ist gerade selbst schuld. Dass soziale Ungleichheit jedoch systemimmanent ist und durch die Art wie im Kapitalismus (Re-)Produktion funktioniert ständig hervorgebracht wird, bleibt unerwähnt.

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Sicher waren auch AkteurInnen beteiligt, die ein wirtschaftliches Interesse an der Legalisierung haben. Der Staat selbst beispielsweise profitiert immens durch fiskalische Abschöpfung. Für Kommunen ist die Erhebung von Steuern auf Bordelle und die Abschöpfung der sogenannten "Vergnügungssteuer" bei den Frauen selbst eine lukrative Möglichkeit, sich von Schulden zu befreien. Es besteht von parlamentarischer Seite dementsprechend überwiegend kein Interesse daran, Männern den Sexkauf zu verbieten. Immerhin ist der Bundestag auch männerdominiert, die Mitgliedschaft in Parteien ebenfalls.

Noch weniger Interesse hat der Staat daran, Hilfen für betroffene Frauen zur Verfügung zu stellen. Die Notsituation der Frauen in der Prostitution ignorierend, werden hierzulande kaum Gelder für Hilfeangebote bereitgestellt. Das geht auch deswegen nicht, weil in der sozialstaatlichen Finanzierung ja auch immer mitschwingen würde, dass es sich bei der Prostitution eben nicht um eine "normale Arbeit" handelt. Dass das Risiko, von (sexualisierter) Gewalt betroffen zu sein, getötet zu werden und Traumatisierungen davonzutragen, enorm hoch ist, muss kulturindustriell unter den Teppich gekehrt werden.

Verschiedene Studien, ebenfalls die von der Bundesregierung selbst in Auftrag gegebenen, machen deutlich: Die Lebensbedingungen haben sich nicht verbessert. Die Gewalt steigt seit Jahren an. Der Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung boomt. Der eigentliche Hintergrund der Prostitution, der Geschlechterwiderspruch, wurde auf struktureller Ebene nie bearbeitet. Das Patriarchat wird ideologisch durch eine scheinbar natürliche Geschlechterdifferenz begründet. Dass Geschlecht nicht "natürlich" ist, dass männliche Bedürfnisse nach sexualisierter Machtausübung als illegitim zu bekämpfen sind, ist das Anliegen von uns Feministinnen. Dafür müssen wir gegen wirkkräftige Selbstverständnisse in Bezug auf das institutionalisierte Zusammenleben zwischen Frau und Mann angehen.

Euer Ansatz ist innerhalb des feministischen Spektrums umstritten, bereits der Untertitel eures Buches – Eine Kritik der Prostitution – dürfte auf Ablehnung stoßen. Welche Argumente haltet ihr denen entgegen, die von "Sexarbeit" sprechen und darin eine ganz normale Arbeit sehen?

Es sollte nicht als normal gelten, dass eine Tätigkeit mit einem so enorm hohen Risiko einhergeht getötet, vergewaltigt und traumatisiert zu werden. Es sollte ebenfalls nicht normal sein, dass eine Frau nach einer Weile in der Prostitution kaum mehr die Möglichkeit hat auszusteigen. Das ist bei keiner anderen Lohnarbeit der Fall. Trotzdem werden diese Zustände achselzuckend hingenommen oder wohlwollend lächelnd affirmiert – weil sie Frauen betreffen. Das ist der Differenzideologie zu verdanken, die mit für den Fortbestand der Prostitution sorgt. Es gilt als "natürlich", dass Männer angeblich einen erhöhten Sexualtrieb haben. Es gilt ebenso als selbstverständlich, dass Frauenkörper die Befriedigung dieser Sexualtriebe vornehmen müssen. Manche gehen sogar so weit zu behaupten, dass wenn es keine Frauen gäbe, die Sex verkaufen, Männer noch viel öfter Frauen vergewaltigten. Viele der in Freierstudien befragten Sexkäufer reproduzieren diese Vergewaltigungsmythen. Grauenhaft sich vorzustellen, wie solche Typen mit Frauen umspringen, die ihnen in der Prostitution ausgeliefert sind.

Die von Ihnen angesprochene "Kritik" im Titel unseres Sammelbandes betrifft die Analyse und Einordnung der Prostitution als gesellschaftliches Phänomen. Wir warnen vor der individualisierenden Betrachtung des Sexkaufes. Wir warnen davor, allein das Stigma, mit dem die Frauen behaftet sind, zu thematisieren. Dieses ist tatsächlich ein Problem. Aber die phrasenhafte Wiederholung, dass Stigmatisierung nicht gut sei, erklärt noch lange nicht, warum Männer das Bedürfnis haben, Gewalt gegen Frauen auszuüben. Und die Chance dazu bekommen sie innerhalb hierarchisch gestalteter sozialer Beziehungen in der Familie, der PartnerInnenschaft, als Vorgesetzte und eben in stark erhöhtem Maße im hierarchischen Verhältnis schlechthin: der Prostitution.

Die Stigmatisierung der Frau in der Prostitution als minderwertig macht die Freiergewalt möglich. Befragte Freier äußern sich in Bezug auf die Frauen in der Prostitution oft wie über Objekte. Und an Objekten kann der Sexkäufer seinen Frust auslassen – es ist wie die Gewalt gegen Dinge. Sie wird als legitim erfahren beziehungsweise legitimiert die Gewalttaten. Es ist also die Aufgabe, die Ursachen und den Zweck der Stigmatisierung der Frauen zu analysieren. Wer sich in der Prostitutionsfrage ausschließlich darauf fokussiert, ob der Sexverkauf nun freiwillig geschieht oder nicht, verdrängt ihre Situiertheit innerhalb patriarchaler Herrschaft. Wenn Menschen "freiwillig" ihre Organe verkaufen, wenn Kinder "freiwillig" arbeiten, dann tun sie das innerhalb einer herrschaftlich verfassten Gesellschaft. Es ist daran zu arbeiten, diese Herrschaft zu überwinden – und sie nicht mythologisch zu verklären beziehungsweise ihr im Angesicht des Elends den freshen touch einer Möglichkeit zur Selbstverwirklichung anzudichten.

In meinem eigenen Artikel "Prostitution. Die Frau als Ware im Neopatriarchat" erkläre ich diese Zusammenhänge. Wenn durch Pro-Sexarbeit-AktivistInnen erklärt wird, dass Sexverkauf eine Art von Emanzipation ist, bin ich immer etwas fassungslos. Was bitte hat denn diese Art der Emanzipation zum Inhalt? Erschreckend ist doch, dass sich sogar Menschen, die sich als FeministInnen bezeichnen, keine größere Emanzipation vorstellen können, als männliche Bedürfnisse bezahlt zu bedienen. Wir allerdings wollen zu einem Zustand, in dem Sexualität aus gegenseitiger Lust, orientiert am weiblichen Körper gelebt wird. Und das eben nicht vorwiegend heteronormativ zurechtgestutzt in exklusiver Heteropartnerschaft, Ehe und Prostitution.

Gibt es verlässliche Zahlen, wie viele Prostituierte freiwillig und selbstbestimmt ihrem Beruf nachgehen und wie viele sich in einer Zwangssituation befinden?

Nein, gibt es nicht. Wie im Bereich der Gewalt gegen Frauen allgemein fehlt es an Studien. Hinzu kommt, dass es sich aufgrund der Verwobenheit von Prostitution und Menschenhandel um ein Dunkelfeld handelt. Weil es sich nicht um einen "Job wie jeden anderen" handelt, sind die allermeisten der in der Prostitution Tätigen nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt oder überhaupt angemeldet. Allerdings gibt es Schätzungen und Hochrechnungen – und die legen nahe, dass mit der Ware Frau immense Summen erwirtschaftet werden. Denn der Körper braucht nicht viel zu seinem Erhalt. Es wird in Schätzungen davon ausgegangen, dass in Deutschland 400.000 Menschen in der Prostitution arbeiten. Davon sind 80 Prozent nicht aus Deutschland. Laut statistischem Bundesamt sind die meisten Frauen aus Rumänien, Bulgarien und Ungarn.

MenschenhändlerInnen, Bordellbetreiber und Sexkäufer nutzen die Armut vieler Frauen und ihre Abhängigkeit von der Familie für die Ermöglichung des Handels aus. Der Menschenhandel von nigerianischen Frauen über Lybien und Italien nach Deutschland steigt beispielsweise seit der neueren Flucht- und Migrationsbewegung immens an. In einem legalisierenden Zielstaat wie Deutschland existiert für die Zwangsprostitution die optimale Infrastruktur. Géraldine Wronski, die bei Solwodi e. V. mit Opfern von Menschenhandel zusammenarbeitet, zeigt in ihrem Artikel die typischen Strategien der Menschenhändler auf.

Die EU-Resolution von 2014 legt den Mitgliedsstaaten deutlich nahe, das Sexkaufverbot einzuführen, weil es sich bei der "freiwilligen, freien und unabhängigen" Prostitution um einen "Mythos" handele. Sie betont, dass die legalisierte Prostitution mit der erzwungenen einhergehe. Ja, dass diese beiden Formen kaum voneinander zu trennen seien. Der legalisierende Staat befördere Menschenhandel. Der Sexkäufer kann also nie sagen, ob er gerade eine gehandelte Frau unter sich hat – was ihn natürlich nicht vom Konsum der Frau abhält. Außerdem sorgt die rassistische Gesetzgebung Deutschlands dafür, dass von Menschenhandel Betroffene nicht aussagen, da sie im Zweifel von Abschiebung betroffen ist.

Auch eine Einführung des Nordischen Modells verändert die konkrete Lebenssituation vieler Prostituierter ja nicht sofort. Welche "Ausstiegshilfen" gibt es derzeit und was wäre notwendig und wünschenswert?

Tatsächlich würde sich die konkrete Lebenssituation vieler Frauen sofort verbessern, wenn im Rahmen des Nordischen Modells Gelder für Soziale Arbeit, Therapie und medizinische Versorgung ausgegeben würde. Es wäre eine sehr viel hilfreichere Unterstützung Beratung, sozialstaatliche Transferleistungen, Plätze in Frauenhäusern, Kinderbetreuung, Hilfe bei der Wohnungssuche, Hilfe bei der Jobsuche, Traumatherapie und Alltagsbegleitung anzubieten anstelle der Errichtung von Verrichtungsboxen, wie es z.B. in Berlin geschehen ist. Letzteres ist fadenscheinig und ignorant angesichts der Studien, die belegen, dass die allermeisten Frauen aus der Prostitution aussteigen wollen und es nicht können, weil ihnen Hilfe verweigert wird. Eine Sozialarbeiterin vom Verein Karo e. V. zeigt in ihrem Artikel treffend auf, wie der deutsche Staat eine gelingende Soziale Arbeit im Bereich Prostitution verunmöglicht. Karo e. V. ist wie viele Beratungsstellen spendenfinanziert. Um Hilfe zu bekommen, müssen Frauen in der Prostitution weit fahren. Und das können sich nur die Wenigsten leisten. Besonders zynisch ist es, wenn Frauen, die aussteigen wollen, in der Beratungsstelle vorgeschlagen wird, doch in einem anderen Bereich der Prostitution zu arbeiten. Dass das keine Seltenheit ist, berichtet Huschke Mau.

Mir ist aufgefallen, dass viele Organisationen, die ausstiegswillige Prostituierte unterstützen, einen religiösen Hintergrund haben, teils aus dem evangelikalen Spektrum kommen. Ist Prostitutionskritik also doch ein Projekt verklemmter Christenmenschen?

Das ist interessant: Während in Bezug auf die Prostitutionsfrage viele queere AktivistInnen, Linke und Linksradikale der Frau in der Prostitution von oben herab aus ihrer privilegierten Position heraus wohlwollend auf die Schulter klopfen und sie zu ihrer Agency beglückwünschen, steht die Kirche da in Teilen in einer helfenden Tradition. Auch im Bereich der Hilfe für geflüchtete Menschen sind manche kirchliche Institutionen stabil. Wenn Frauen aus der Prostitution aussteigen wollen, finden sie häufig keinerlei Hilfe und keine Anlaufstelle, an die sie sich wenden können. Da sind die kirchlichen Initiativen oft die einzige sich bietende Möglichkeit. Davon berichtet auch die Aktivistin und Aussteigerin Sophie aus eigener Erfahrung in unserem Sammelband. In ihrem Interview können die Umstände einer Frau in der Prostitution und die immensen Schwierigkeiten beim Ausstieg nachgelesen werden.

Ein gut umgesetztes Nordisches Modell würde für säkulare Fachberatungsstellen und Frauenhausplätze sorgen, an die sich die Betroffenen wenden können. Es sollte selbstverständlich staatliche Aufgabe sein, Frauen und auch Männer vor männlicher Gewalt zu schützen. Menschen in der Prostitution hilfreich zur Seite zu stehen, ist ganz gewiss nicht verklemmt. Sondern im Gegenteil das Mindeste, was gegen männliche Gewalt unternommen werden kann. Die Prostitution existiert aufgrund geschlechtsspezifischer Ungleichheit. Sie existiert, weil männliche Herrschaft mit der sexualisierten Aneignung von weiblichen Körpern einhergeht. Und so ist die Hilfe für Frauen in der Prostitution und das Engagement gegen sie ureigenes Interesse einer Feministin. Wir begreifen das Vorgehen gegen den Sexkäufer als unsere feministische Pflicht.

Brigitte Kiechle stellt in ihrem Text dar, dass Prostitution in der Linken in den vergangenen 150 Jahren weitgehend kritisch gesehen wurde. Wie bereits angedeutet, ist das heute nicht mehr uneingeschränkt so. Was hat sich verändert?

Ich würde sagen, es ist einerseits das Fehlen einer ausreichenden, theoretischen Analyse des Patriarchats, was dann in ein ideologisches Problem mündet. Das Patriarchat kann nicht als in der Wertschöpfung, der Verteilung von Arbeit/Lohnarbeit und in der antidemokratischen Familie sich reproduzierend erkannt werden. Und wer vom Patriarchat spricht, darf von Klassen nicht schweigen. Materialistische Gesellschaftskritik wurde allerdings weitestgehend über Bord geworfen. Beziehungsweise einfach begrifflich falsch verwendet. Der viel beklagte Gender-Pay-Gap zum Beispiel wird damit erklärt, dass "der Chef" halt sexistisch sei und so individuell entscheidet, weniger zu zahlen. Und wenn viele Chefs das machten, dann sei es Diskriminierung. Allerdings ist ein Herrschaftsverhältnis abstrakt und in Formen verfestigt, dementsprechend grundsätzlich und stabil. Die "Lösungsstrategien" der dekonstruktivistisch Bewegten sind viel zu stark an der herrschenden Logik orientiert. Konflikte, wie die in der Prostitution, werden durch sie nur als intersubjektive Diskriminierung betrachtet – ihre Lösungen ändern an der Ursache der Konflikte überhaupt nichts, sondern sorgen für deren Reproduktion und ideologische Romantisierung. Es ist nichts gegen die Bereitstellung von "Verrichtungsboxen" und öffentlichen Waschgelegenheiten zu sagen. Bleibt es jedoch dabei, wird der grundlegende Geschlechterwiderspruch hinter der Prostitution nicht bearbeitet und Frauen werden weiterhin massiv unter den Begleiterscheinungen von Prostitution leiden.

Andererseits liegt es an einer zu stark vereinfachten Rezeption der Poststrukturalistischen Theorie, etwa der von Jacques Lacan. Das führt im Bereich der Geschlechtertheorie dann zur voreiligen Ausrufung der Postgender-Ära. Bei manchen Aktivistinnen wirkt es, als könne durch die bloße Änderung des Pronomens die Binarität abgeschafft werden. Das ist allerdings für uns Frauen ein gefährlicher Irrglaube: Da Frauen weiterhin aufgrund ihres Frauseins (sexualisierte) Gewalt erfahren, von Genitalverstümmelung betroffen sind, häufiger von Armut betroffen sind als Männer und sich in die Familie und PartnerInnenschaft betreffenden emotionalen und sozialen Abhängigkeitsverhältnissen befinden, ist es fatal, dies sprachlich zu entnennen.

Es ist ebenso fatal, so zu tun, als wäre nicht das Frausein Ausgangspunkt dieser Umstände. Und es wäre misogyn, Gelder wegen des Wunsches einer Auflösung der beiden Kategorien nicht mehr in Frauen- und Mädchenarbeit zu stecken. Klar, Geschlecht ist die kulturelle Verarbeitung eines körperlichen Dimorphismus von Menschen. Und diese Verarbeitung befand sich historisch immer im Wandel. Allerdings festigten geschlechtssegregierende Kulturen über Jahrtausende hinweg die Art, wie Menschen miteinander wirtschaften und sich reproduzieren. Die symbolische und materielle Ebene von Geschlecht verschwinden nicht einfach, nur weil ich sage, dass sie hergestellt sind. Geschlecht ist real – weil es als real behandelt wird und mit der Dimension Klasse bis dato die Grundlage der Gesellschaft ist.

Stellen wir uns eine ganz andere Gesellschaft vor, ohne Patriarchat, mit einer emanzipierten Sexualkultur. Wäre es unter diesen völlig anderen Rahmenbedingungen akzeptabel, "sexuelle Dienstleistungen" zum Verkauf anzubieten?

Ich denke, es ist aktuell immer akzeptabel, Sex zu verkaufen. Es ist nur nicht akzeptabel, ihn zu kaufen. Wenn Sie Dienstleistung sagen, verschweigen Sie all die bereits aufgeführten sexistischen Umstände in der Prostitution. In der paradiesischen Vorstellung einer emanzipierten Gesellschaft würde nicht der abstrakte Mann über die abstrakte Frau herrschen. Der Wert wäre nicht mehr fetischistisch auf sich selbst zurückgekoppelt. Gesellschaftlich notwendige Arbeit würde nicht mehr nur aus der Notwendigkeit der individuellen Selbsterhaltung oder Scheinselbstverwirklichung in der verwalteten Welt verrichtet werden. Das heißt, es gäbe keine Dienstleistungen mehr, weil Lohnarbeit nicht mehr existieren würde. Sex, als soziales Miteinander, würde nicht aus der Notwendigkeit der Selbsterhaltung heraus, sondern aus gegenseitiger Lust in solidarischen Beziehungen gelebt werden.

Es ist eines der Armutszeugnisse der Menschheit, dass Sexualität in kommodifizierter Form noch den Körper der Frau selbst zur Ware werden lässt. Es ist ein Armutszeugnis, dass Sex in Prostitution und Pornografie nahezu ausschließlich am Mann und seinen Bedürfnissen orientiert ist. Feministische Sexualität orientiert sich an der Spezifik des weiblichen Körpers und des respektvollen, liebevollen, lustvollen Umgangs zwischen Körpern. Sie hebt darauf ab, dass Frauen Grenzen ziehen, ihre eigenen Bedürfnisse erkennen und auf Augenhöhe ausleben. Das alles fällt bei Prostitution und Pornografie meistens weg. Mona Schäck argumentiert übrigens in ihrem Artikel über Pornografie, warum eine feministischen Kritik an der häufig entwürdigenden, gewaltvollen Pornografie dringend notwendig ist. Der gespielte Orgasmus in der Prostitution und Pornografie steht für die androzentrische Verhinderung emanzipierter Lust von Frauen im Patriarchat.

Feministische Sexualität findet hierarchiefrei in gegenseitiger Anerkennung als gleiche Menschen statt. Niemals als Lohnarbeit – immer aus Lust am Leben.

Die Fragen stellte Martin Bauer.

Feministisches Bündnis Heidelberg (Hrsg.): Was kostet eine Frau? Eine Kritik der Prostitution. Alibri Verlag 2020, 304 Seiten, kartoniert, 18,00 Euro, ISBN 978-3-86569-317-4

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