Die ungebrochene Macht der Kirchen: Eine Bestandsaufnahme

Als Folge der nicht enden wollenden Diskussionen um die Missbrauchsskandale hat das Image der Kirchen, insbesondere das der katholischen Kirche in Deutschland, stark gelitten. Doch nicht nur die von Kardinal Woelki mehr verhinderte als geförderte Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs im Erzbistum Köln hat dazu geführt, dass die Kirchenaustrittszahlen in den Bistümern immer wieder neue Höchststände erreichen. Viele Menschen haben in den letzten Jahren ihren Bezug zum Glauben gänzlich verloren, esoterische Strömungen haben starken Zulauf, andere wiederum hegen gegen die Kirche als Organisation große Vorbehalte und haben sich abgewandt. Allein seit 1990 haben die Kirchen fast ein Drittel ihrer Mitglieder verloren. Umso überraschender ist es daher, dass die Macht und gesellschaftspolitische Bedeutung der Kirchen in Deutschland ungebrochen groß ist.

Der kirchliche Einfluss reicht nicht nur bei der Debatte um die Sterbehilfe weit in die Politik und Exekutive hinein, auch in den Medien sowie in den Schulen behauptet die christliche Deutungshoheit ihren Platz, während säkulare Interessen kaum Gehör finden und der Atheismus in den politischen Gremien eine Nischenexistenz fristet.

Beispielhaft war im Oktober 2010 die Rede des damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff, der versuchte, ein breit angelegtes "Verständnis von Deutschland" zu formulieren: "Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Geschichte. Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland." Obwohl diese Rede anlässlich des 20. Jahrestags der Deutschen Einheit gehalten wurde und die Vielfalt der unterschiedlichen Lebensentwürfe in den Mittelpunkt gestellt werden sollte, verlor Bundespräsident Wulff kein einziges Wort darüber, dass auch der Atheismus und nicht religiös verankerte Menschen die deutsche Identität geprägt haben. Gerade im Hinblick auf die Tatsache, dass damals rund zwei Drittel der Bevölkerung in den neuen deutschen Bundesländern keiner Kirche angehörten, war dies eine zutiefst irritierende präsidiale Botschaft – obwohl, und auch das war bezeichnend, der Aufschrei damals aus einer ganz anderen Richtung kam.

Kirche und Politik suchen gern den engen Schulterschluss. Christliche Abgeordnete sind im Bundestag stets überdurchschnittlich vertreten gewesen. Die meisten Mitglieder der amtierenden Bundesregierung vertrauten bei ihrem Amtseid auf Gottes Hilfe – nur Olaf Scholz, Katarina Barley und Svenja Schulze verzichteten auf diese Formel. So wie im Bundestag der Frauenanteil zu gering ist, so ist auch die religiöse Bindung der Abgeordneten nicht repräsentativ für die deutsche Bevölkerung. Konfessionslose stellen ebenso wie Muslime eine Minderheit dar.

Während die meisten Politiker ihren Glauben gerne medienwirksam zur Schau stellen und – wie unlängst Markus Söder – betonen, wie wichtig für sie das Gebet und die Zwiesprache mit Gott ist, halten sich nichtgläubige Politiker aus wahltaktischen Erwägungen meist bedeckt. Als Robert Habeck 2019 in einem Interview von der Bild-Zeitung nach seinem Glauben gefragt wurde, antwortete der nach eigenen Aussagen vom Protestantismus und der "Mitleidsethik des Christentums" geprägte Grünen-Vorsitzende, dass er nicht Mitglied einer Kirche sei und "wohl zu viele Philosophen gelesen habe", um "im eigentlichen Sinn" glauben zu können. Woraufhin sich der baden-württembergische Landesvorsitzende der CDU Thomas Strobl umgehend empörte: "Im Klartext bedeutet das: Menschen, die an Gott glauben, sind halt ein bisschen unbelesen. Ja, was ist denn das für eine unglaubliche, peinliche Arroganz?"

Offenkundige christliche Prägung des Ethikrats

Auch die Debatte um die Sterbehilfe hat eindrucksvoll gezeigt, wie stark die Kirchen diesen Diskurs bestimmen. Wenn bei der Diskussion der Deutsche Ethikrat befragt wird, so sind auch dort kaum Konfessionslose vertreten. Über die Besetzung des Ethikrats entscheiden hälftig Bundesregierung und Bundestag. Daher verwundert es nicht, dass unter den aktuell 24 Mitgliedern mit Petra Bahr, Franz-Josef Bormann, Elisabeth Gräb-Schmidt, Sigrid Graumann, Andreas Lob-Hüdepohl und Kerstin Schlögl-Flierl allein sechs christliche Theologen zu finden sind. Weitere Mitglieder haben einen dezidiert religiösen Hintergrund, so Josef Schuster als Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland und Muna Tatari, eine islamische Theologin, die mit einer Arbeit zum Thema Gott und Mensch im Spannungsverhältnis von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit promoviert hat.

Die christliche Prägung des Ethikrats ist offenkundig. Aber der Ethikrat ist eben nur beratend tätig; Fakten werden von den Gerichten geschaffen. Als das Bundesverfassungsgericht im Februar 2020 das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung für verfassungswidrig erklärte, kritisierten der Bayreuther Jurist Stephan Rixen und der Gerontologe Andreas Kruse – beide sind ebenfalls Mitglieder des Ethikrates – die Entscheidung. Während Rixen der Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen der römisch-katholischen Deutschen Bischofskonferenz zur Seite steht, gehörte Andreas Kruse viele Jahre der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland an. In einem Interview mit der Zeitschrift Chrismon betonte Kruse: "Ich definiere mich aus dem Glauben."

Ein paar Monate zuvor hatte das Leipziger Bundesverwaltungsgericht die Freigabe von Natrium-Pentobarbital für Schwerstkranke erlaubt – nichtsdestotrotz boykottiert der erzkatholische Gesundheitsminister Jens Spahn bis heute die Umsetzung des Urteils.

Als im Zuge der Corona-Maßnahmen rund um den Oster-Lockdown die Kirchen gebeten wurden, auf Präsenzgottesdienste zu verzichten, löste dies eine breite Welle der Empörung und des Widerspruchs aus. So verwies der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, darauf, dass Gottesdienste "kein Beiwerk" seien. Doch nicht genug: Die von der Pastorentochter Angela Merkel geführte Bundesregierung ruderte nicht nur umgehend zurück, sondern distanzierte sich sogar von ihrer aus Infektionsschutzgründen sehr sinnvollen Bitte. Kirchen genießen in den Zeiten der Pandemie einen nicht nachvollziehbaren Sonderstatus gegenüber der Kultur, obwohl die Kunst durch die Verfassung genauso geschützt ist wie die Religion. Kirchen sind trotz hoher Inzidenz geöffnet, Museen und Theater seit Monaten geschlossen. Verliert die göttliche Botschaft ihre Bedeutung per Livestream?

Kirchen behaupten ihr Territorium im öffentlichen Raum

Dass Religionsfreiheit auch die Freiheit von der Religion impliziert, gerät allzu oft aus dem Blick. Es mangelt in Deutschland in vielerlei Hinsicht an einer Trennung von Staat und Kirche. Stattdessen werden die Kirchen mit Unterstützung der Politik nicht müde, ihr Territorium im öffentlichen Raum zu behaupten: Unzählige Kruzifixe zieren Amtsstuben und Klassenzimmer; kaum ein öffentliches Gebäude, egal, ob Messehalle oder Rathaus, wird seiner Bestimmung übergeben, ohne dass nicht gleich zwei kirchliche Vertreter ihren Segen spenden. Der Religionsunterricht gilt in den Schulen als unverzichtbar, obwohl dies von muslimischer Seite Begehrlichkeiten weckt. Daneben gibt es noch den Anachronismus der Konkordatslehrstühle in Bayern oder die Stillen Tage, an denen ein generelles Tanzverbot herrscht und selbst Schachturniere nicht stattfinden dürfen. Warum? Niemand wird gezwungen, am Karfreitag in eine Diskothek zu gehen oder sich über ein Schachbrett zu beugen.

Der Staat hält seine schützende Hand über die kirchlichen Privilegien und auch in rechtlicher Hinsicht genießen die Kirchen einen Sonderstatus: So existiert ein kirchliches Arbeitsrecht, dessen Bestimmungen weit in das Privatleben und die Lebensführung der kirchlichen Beschäftigten hineinreicht. Bei einer Wiederheirat droht die Kündigung. Statt einem Betriebsrat gibt es Mitarbeitervertretungen; Löhne werden nicht durch Tarifverhandlungen, sondern Gremien festgelegt; das Streikrecht ist ausgehebelt, da es als unvereinbar mit dem Dienst am Nächsten gilt.

Unverständlicherweise zeigen auch die Staatsanwaltschaften bei der Strafverfolgung von Vergehen seitens des Klerus bundesweit eine Beißhemmung. So hätte angesichts der zahllosen Missbrauchsfälle der letzten Jahre wiederholt die Notwendigkeit bestanden, Durchsuchungsbefehle auszustellen, um in den betroffenen Bistümern belastende Dokumente sicherzustellen. Doch die zuständigen Ermittlungsbehörden überließen Kardinal Woelki untertänigst die Entscheidungshoheit, ob und wer Missbrauchsgutachten erstellt und wie diese veröffentlicht werden. Warum nimmt nicht der Staat die Ermittlungen in die Hand? Und macht sich ein Weihbischof, der einen Priester, der sich an Minderjährigen vergangen hat, in eine andere Gemeinde versetzt und ihn dort erneut mit seelsorgerischen Aufgaben in der Jugendarbeit betraut, nicht wissentlich der Beihilfe zum Kindesmissbrauch schuldig?

Beim Thema Kirchensteuer verschmelzen beide Institutionen regelrecht. Der Staat übernimmt selbstredend den Einzug der Steuern, während der Kirchenaustritt und das Ausbleiben der Steuereinnahmen den Kirchen signalisiert, dass sich ein Gläubiger von ihnen abgewandt hat.

Weltweit gar einzigartig ist die finanzielle Alimentierung der Kirchen durch den deutschen Staat: Seit dem Jahr 1919 sind Staatsleistungen in Höhe von umgerechnet rund 20 Milliarden Euro transferiert worden. Es handelt sich dabei um Entschädigungszahlungen für Territoriumsverluste infolge der Säkularisierung zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Vergleichbare Entschädigungen gibt es in unseren Nachbarländern nicht, obwohl auch dort das Kirchenvermögen verstaatlicht wurde. Diese Staatsleistungen, die auch die Besoldung der Bischöfe umfassen, betrugen 2020 rund 570 Millionen Euro und werden von allen Steuerzahlern, also auch von Konfessionslosen und Muslimen, aufgebracht. Derzeit wird um die Ablösung der Staatsleistungen gerungen, wobei jüngst ein Gesetzentwurf von Grünen, Linken und FDP abgelehnt wurde, der vorsah, dass die Ablösung das 18,6-Fache der Zahlungen aus dem Jahr 2020, also rund 10 Milliarden Euro, betragen soll. Forderungen, die Staatsleistungen umgehend einzustellen, fanden ebenso keine Mehrheit. Die Kirchen pochen auf eine möglichst hohe Abfindung, hilfreich ist dabei wiederum, dass die hinzugezogenen Sachverständigen von den Parteien benannt werden.

Kein Eintrag ins Lobbyregister für Religionsvertreter geplant

Es überrascht auch nicht, dass die katholische und die evangelische Kirche eigene Lobbybüros in den Landtagen und im Bundestag unterhalten, besonders intensiv sind die Kontakte zum Finanzministerium. Ein im September 2020 von CDU/CSU und SPD eingebrachter Gesetzentwurf zur Einführung eines Lobbyregisters sieht vor, dass die Tätigkeit der Kirchen und Religionsgemeinschaften nicht der Registrierungspflicht unterliegen soll, obwohl die Kirchen als politische Akteure agieren und ihre spezifischen Interessen verfolgen. Geradezu als eine Petitesse erscheint es da, dass der Kirchenaustritt in Deutschland immer noch mit bürokratischen und finanziellen Hürden erschwert wird, während man dies in Norwegen längst kostenlos über ein Online-Portal regeln kann.

Auffallend ist auch, dass die Kirchen einen starken Einfluss auf die Diskurshoheit in den Medien ausüben. Fast immer sind es religiös verankerte Redakteure, die in den Tages- und Wochenzeitungen über Kirchenthemen berichten, Kommentare und Leitartikel schreiben. Warum sollten Konfessionslose nicht in der Lage sein, die Weigerung von Papst Franziskus, homosexuelle Paare zu segnen, gesellschaftspolitisch einzustufen? Andererseits würde schnell der Vorwurf der fehlenden journalistischen Unabhängigkeit erschallen, wenn beispielsweise nur Autoren mit SPD-Parteibuch Artikel über die aktuelle Familienpolitik von Franziska Giffey verfassen dürften.

Im öffentlich-rechtlichen Rundfunk gibt es sogar eigene Kirchenredaktionen, die – wie beim Hessischen Rundfunk – als Beschäftigungsvoraussetzung ein Theologiestudium zu erfordern scheinen. Diskutiert werden Themen wie Spiritualität und religiöse Lebensfragen, dazu kommen täglich mehrere Verkündigungssendungen, in denen christliche Botschaften sanft, aber mit missionarischem Eifer ausgebreitet werden.

Obwohl die Rundfunkanstalten durch die Landesrundfunkgesetze und den Rundfunkstaatsvertrag nur verpflichtet sind, den Kirchen Sendeplätze zur Verfügung zu stellen, übernehmen sie selbstredend sämtliche Produktionskosten und sogar die Honorare der Verkünder. Es wundert daher auch nicht, dass in den Rundfunkräten viele Theologen vertreten sind. Der Vorsitzende des bayerischen Rundfunkrates Lorenz Wolf ist übrigens ein römisch-katholischer Geistlicher und Offizial des Erzbistums München und Freising. Für konfessionslose Verbände sind die Hürden hingegen hoch. Selbst im rbb-Rundfunkrat in Berlin – der "atheistischen Hauptstadt Europas" (Guardian) – ist es dem Humanistischen Verband bisher nicht gelungen, mit einem Mitglied vertreten zu sein.

Man muss kein Hellseher sein, um vorherzusagen, dass in ein paar Jahren nur noch weniger als die Hälfte der deutschen Bevölkerung der evangelischen oder katholischen Kirche angehören wird. Sollte es da nicht an der Zeit sein, zu überdenken, ob die kirchlichen Privilegien und Gewohnheitsrechte noch der gesellschaftlichen Realität entsprechen? Die Lebenswirklichkeit und der Wertekanon in der Bundesrepublik haben sich nicht nur geweitet, sondern auch tiefgreifend verändert. Viele Menschen identifizieren sich nicht mehr mit kirchlichen Themen und fühlen sich von der christlichen Ethik bevormundet. Religiös bedingte Reglementierungen, eigene Rechtsstrukturen und kirchliche Privilegien sind nicht mehr zeitgemäß – darüber kann und darf sich die Politik nicht länger hinwegsetzen. Der Atheismus gehört zweifelsfrei zu Deutschland.

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