Kritik am Kölner Missbrauchsgutachten

"Stets wirkten sich die Mängel zugunsten der Bischöfe aus"

Im März stellte das Erzbistum Köln ein juristisches Gutachten zum Umgang mit den Missbrauchsfällen in der eigenen Diözese vor, nachdem im Herbst vergangenen Jahres ein erstes Gutachten aufgrund angeblicher Mängel zurückgehalten worden war. Doch auch das neue Gutachten weist nach Meinung von Strafrechtlern erhebliche Mängel und sogar Merkmale eines Gefälligkeitsgutachtens auf. Im hpd-Interview äußert sich Strafrechtsprofessor Jörg Scheinfeld detailliert zu den Gründen für seine Kritik, die er vergangene Woche öffentlich gemacht hatte.

hpd: Herr Prof. Scheinfeld, Sie und Ihre KollegInnen Sarah Gade und Christian Roßmüller haben sich das im März vorgestellte juristische Gutachten der Kölner Strafrechtskanzlei Gercke Wollschläger zum Umgang mit sexuellem Missbrauch im Erzbistum Köln genauer angeschaut und sind damit hart ins Gericht gegangen. In der "Christ & Welt" war sogar zu lesen, dass es Ihrer Meinung nach Zweifel an der Objektivität der Gutachter aufkommen lasse und viele Merkmale eines Gefälligkeitsgutachtens aufweise. Das ist starker Tobak. Was veranlasst Sie zu diesem Urteil? 

Prof. Jörg Scheinfeld: Wir haben uns den Teil des Gutachtens gründlich angesehen, der sich mit dem staatlichen Strafrecht befasst. Dabei sind uns schnell zahlreiche Dinge aufgefallen. Insbesondere Missachtungen wissenschaftlicher Grundregeln, vor allem verkürzte Darstellungen der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. Stets wirkten sich die Mängel zugunsten der Bischöfe aus.

Was wären das zum Beispiel für Mängel des Gutachtens?

Beispielbild

Prof. Dr. Jörg Scheinfeld ist Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht, Medizinstrafrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Rechtsphilosophie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
(Foto: © privat)

Beispielsweise bleiben Gegenmeinungen konsequent unerwähnt. Es gibt in dem strafrechtlichen Gutachtenteil nicht einen einzigen Hinweis darauf, dass in der Rechtsprechung und in der Literatur Gegenstandpunkte vertreten werden. Eine solche Einhelligkeit gibt es per se im Strafrecht nicht, da wird über fast alles gestritten. Das ist bei den im Gutachten behandelten Rechtsfragen ganz genauso.

Des Weiteren wird die Frage nach einer möglichen aktiven Beihilfe der Bischöfe in entscheidender Weise verkürzt behandelt. Eine inhaltliche Prüfung findet nicht statt. Insbesondere fehlt die bekannte Fallgruppe, dass der Bischof einen auffällig gewordenen priesterlichen Sexualstraftäter schlicht örtlich versetzt und der dann in der neuen Gemeinde weitere Straftaten begeht. Das gehört klar zum Gutachtenauftrag, nämlich den "Umgang mit Fällen sexuellen Missbrauchs" zu bewerten.

Zudem werden im Gutachten Scheingefechte geführt. Es werden Positionen bekämpft, die grotesk sind und die deshalb auch niemand vertritt. Dann lassen sich natürlich wohlfeile argumentative Siege erzielen. So wird gesagt, dass eine anlasslose Überwachungspflicht des Bischofs, alle Priester seiner Diözese zu kontrollieren, nicht erfüllbar und deshalb nicht zumutbar sei. Aber niemand fordert eine anlasslose Kontrollpflicht. Es geht natürlich um die Fälle, in denen der Bischof umgekehrt allen Anlass hatte, gegen das Tun eines auffällig gewordenen Klerikers einzuschreiten.

Ferner, und das ist für uns besonders aufschlussreich, verschweigen die Gutachter eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs, die Herr Gercke in der eigenen Erläuterung in einem Gesetzeskommentar als zu weitgehend kritisiert. Die Entscheidung passt den Gutachtern nicht ins Konzept. Das heißt doch: Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs wird dem Leser des Gutachtens so präsentiert, wie es die Gutachter gebrauchen können.

Zu dem letzten Punkt: Hätte sich denn die angemessene Berücksichtigung dieser Entscheidung des Bundesgerichtshofs auf die Frage der Verantwortlichkeit von Bischöfen ausgewirkt?

Allerdings hätte sie das. Zwar müssen Vorgesetzte oder Betriebsinhaber nach den Regeln, die die Rechtsprechung zur sogenannten "Geschäftsherrenhaftung" aufgestellt hat, nur ausnahmsweise gegen Taten der Angestellten einschreiten, nämlich nur dann, wenn ein innerer Zusammenhang zum Betrieb besteht. Doch zeigt die von den Gutachtern nicht genannte Entscheidung, wie wenig nach der Rechtsprechung dann am Ende doch genügt. Ein Angestellter hatte im Kiosk eigennützig Drogen verkauft. Der Bundesgerichtshof sieht seinen Chef, den Kioskbetreiber, zum Einschreiten verpflichtet. Die Begründung des Bundesgerichtshofs ist gerade für die kirchlichen Missbrauchsfälle interessant. Die Anstellung im Kiosk habe ihm wegen der konkreten Gegebenheiten – gut abgeschirmte Räumlichkeit und Verkauf an Stammkunden – die Abwicklung seiner Drogengeschäfte erleichtert, deshalb besteht die Betriebsbezogenheit. Und eine entsprechende Erleichterung, die ihre Anstellung bietet, haben auch viele Kleriker für ihre Taten genutzt, nämlich ihre Priestermacht ausgenutzt, wenn sie beispielsweise Messdiener oder Heimkinder missbraucht haben. Kleriker haben zum Teil ihre Priestermacht zur Tatbegehung ausgenutzt, indem sie Kinder im Beichtstuhl oder nachts im Schlafraum des kirchlichen Kinderheims missbraucht haben. Warum erfährt man im Gutachten der Kanzlei Gercke Wollschläger nichts von dieser Herleitung einer Geschäftsherrenhaftung über das Fragen nach einer Erleichterung der Tatbegehung? Wohlgemerkt, eine Herleitung des Bundesgerichtshofs. Dabei betonen die Gutachter an anderer Stelle sogar selbst, dass für die Strafverfolgungspraxis die Rechtsprechung maßgeblich ist.

Das berührt eine zentrale Frage, die in Bezug auf die Verantwortlichkeit der Bischöfe immer wieder gestellt wird, nämlich, ob es sich bei den Missbrauchstaten wirklich um ein spezifisch kirchliches Problem handelt. Gercke weist darauf hin, dass Sexualstraftaten an Kindern auch in Sportvereinen vorkommen und schließt daraus, dass diese ihren Grund nicht in spezifisch kirchlichen Strukturen habe, sondern eher allgemein in Autoritäts- und Machtstrukturen. Deshalb greife die sogenannte "Geschäftsherrenhaftung" für Bischöfe nicht. Was sagen Sie zu dieser Einschätzung? 

Das ist auch wieder so ein Punkt. In meinen Augen ist die Argumentation äußerst schief und nicht tragfähig. Dass auch anderswo Straftaten unter Ausnutzung der Machtverhältnisse begangen werden, schließt doch die Betriebsbezogenheit nicht aus. Was könnte die Betriebsbezogenheit der Tat denn stärker begründen als der Umstand, dass der Täter diejenige Macht ausnutzt, die der Betrieb ihm mit der Anstellung verschafft hat? Wenn man den Bundesgerichtshof unbefangen liest, muss man auch erkennen, dass dies genügt. Denn das Gericht hat in einem Fall die Körperverletzung, die ein Mitarbeiter einem anderen im Pausenraum zugefügt hat, gerade deshalb nicht als betriebsbezogen eingestuft, weil der Täter für die Tat keine anstellungsbezogene Macht ausgeübt habe. Im Umkehrschluss ergibt sich, dass die Betriebsbezogenheit besteht, wenn der Angestellte eine solche Macht ausübt. Das wird in der strafrechtlichen Literatur auch ausdrücklich betont, aber im Gutachten nicht erwähnt.

Sie sagen, dass viele Täter ihre Priestermacht zur Tatbegehung ausgenutzt haben. Worin sehen Sie denn die spezifische Priestermacht?

Die katholische Kirche beansprucht für sich die Macht über das Seelenheil des Einzelnen. Für einen gläubigen Menschen ein wichtiges, unter Umständen sogar das wichtigste Gut. Die Priester agieren als Vermittler zwischen dem Einzelnen und Gott, sie haben dadurch eine einzigartige Möglichkeit, individuelle Lebensschicksale zu beeinflussen, sie haben dabei sozusagen die Allmacht auf ihrer Seite. Als Ratgeber und Seelsorger nehmen sie insbesondere Einfluss auf schicksalhafte individuelle Wert- und Gewissensentscheidungen, ein intensiverer Zugriff auf die Grundlagen der individuellen Existenz ist kaum vorstellbar. Einen besseren Zugriff auf das Seelen- und Innenleben eines Menschen, auf Privates beziehungsweise Intimes und damit auf das, was einen Menschen prägt, hat wohl kein anderer Mitmensch. Zumal bei Kindern.

Den dabei bestehenden Exklusivitätsanspruch der Kirche bringt beispielsweise das Beichtgeheimnis zum Ausdruck – alle anderen werden ausgeschlossen. Dabei sind Priester vor allem darauf angewiesen, dass ihnen Vertrauen entgegengebracht wird, und dieses Vertrauen erlangen sie schon allein wegen der Zugehörigkeit zur Institution Kirche, also dem, was im jetzigen Betrachtungszusammenhang der "Betrieb" ist. Die Kirche vermittelt und verschafft den Priestern über ihre Institution letztlich die von Gott abgeleitete Autorität der Priester. Deshalb müssen ihre Verantwortungsträger auch die Gefahren abwenden, die sich aus dem Missbrauch dieser Macht ergeben.

Die Kanzlei Gercke Wollschläger hat sich recht zeitnah nach Ihrem Artikel zu Wort gemeldet mit einer Kritik an Ihrer Kritik. Was sagen Sie zu dieser Erwiderung?

Mit der ersten Stellungnahme der Kanzlei Gercke Wollschläger liegt sozusagen der sichtbare Nachweis vor, dass die Gutachter ihrer Rolle als neutrale Sachverständige nicht gerecht werden. Die Reaktion zielte nur auf persönliche Herabsetzung der Kritiker. Das haben wir so noch nicht erlebt. So reagiert kein Sachverständiger, der ganz beruhigt darüber ist, unparteiisch und sachlich korrekt begutachtet zu haben. Wenn ich recht sehe, hat die Kanzlei diese Stellungnahme zurückgezogen.

Eine zweite Stellungnahme ging dann aber auch auf Inhaltliches ein. Was halten Sie von dieser Erwiderung?

Die Stellungnahme wiederholt nur die unzureichenden Ausführungen aus dem Gutachten. Der große Kniff, den die Gutachter anwenden, liegt darin, dass sie die Geschäftsherrenhaftung für alle Fälle des von Klerikern begangenen sexuellen Missbrauchs auf abstrakt-rechtlicher Ebene verneinen. Dabei verlangt die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, ganz auf die Umstände des Einzelfalls abzustellen. Das steht übrigens auch in der von den Gutachtern nicht benannten Gerichtsentscheidung.

Zudem trägt die Stellungnahme die Züge einer neuerlichen Verschleierung der eigentlichen Rechtsprechungsansicht. Es ist ja so, dass die Rechtsprechung die Pflicht zum Einschreiten des Geschäftsherrn dann bejaht, wenn die berufliche Position des Angestellten diesem seine Tatbegehung erleichtert. Wie im genannten Kioskfall. In solchen Fällen ist es aber gerade nicht so, wie die Gutachter behaupten, dass die Tat genauso außerhalb des Betriebs begangen werden könnte. Wenn der Priester sich dem Messdiener in der Abgeschiedenheit der Sakristei aufdrängt unter der Drohung, ihn von der Messdienerschaft auszuschließen, sollte er sich nicht fügen, dann kann diese Tat ersichtlich nicht außerhalb der Kirche an einem fremden Kind genauso begangen werden. So liegt es auch bei den Drogengeschäften in besagtem Kiosk-Fall: Der Kioskangestellte könnte seine Drogen auch im Park verkaufen, aber eben nicht genauso, nicht unter Ausnutzung der Erleichterungen, die ihm die Anstellung bietet. Das liegt einigermaßen auf der Hand. Und für die Missbrauchsfälle gilt dasselbe. Man betrachte nur Taten, die in der doppelt abgeschirmten Geheimnissphäre des Beichtstuhls begangen werden.

Erstaunlich ist zudem der Hinweis in der Stellungnahme, dass die von Gercke untersuchten Taten typischerweise bei Freizeitaktivitäten begangen worden seien. Dabei weist das Gutachten auf Seite 54 in einer Grafik aus, dass das Gegenteil stimmt, die Taten sind mehrheitlich im kirchlichen Kontext begangen worden. Und überhaupt kann man ja schlechterdings die Betriebsbezogenheit der Taten, die im kirchlichen Kontext begangen worden sind, nicht hinwegargumentieren mit dem Hinweis, dass andere Taten in der Freizeit begangen worden sind.

Schließlich ist die Stellungnahme auch besonders beredt mit dem, worauf wieder nicht eingegangen wird: Nämlich auf das Kriterium des Bundesgerichtshofs für die Betriebsbezogenheit, ob die betriebliche Tätigkeit und die sonstigen betrieblichen Umstände die Tatbegehung erleichtert haben.

Gercke pocht auf den Grundsatz der Eigenverantwortlichkeit. Er schreibt: "Jeder Kleriker ist zunächst einmal für seine Taten selbst verantwortlich und kann diese unmittelbare Verantwortung nicht auf Bischöfe oder Kardinäle abwälzen." Stimmt das nicht?

Das ist im ersten Teil dieselbe Argumentation wie in Gerckes Gesetzeskommentierung. Nur erfährt man dort wenigstens, dass der Bundesgerichtshof anderer Ansicht ist. Der Grundsatz der Eigenverantwortlichkeit reicht nun mal nach dem Bundesgerichtshof nicht so weit, wie die Kanzlei Gercke Wollschläger dem Leser des Gutachtens vermitteln will. Der zweite Teil der Aussage ist übrigens unbedacht. Es geht im Einzelfall nicht um ein Abwälzen von Verantwortung, sondern um das Hinzutreten der Verantwortlichkeit des Bischofs. Inwieweit könnte ein Priester, der im Beichtstuhl ein Kind vergewaltigt hat, seine Verantwortung abwälzen auf einen Bischof, der den Sexualstraftäter nicht rechtzeitig aus der seelsorgerischen Tätigkeit entfernt hat und der selbst zur Verantwortung gezogen wird?

Schließlich ist noch zu betonen, dass die Kanzlei Gercke Wollschläger auch in dieser Stellungnahme nicht auf ein Abqualifizieren Ihrer Kritiker zu verzichten vermag. Soll das etwa Schule machen? Das beschädigt das gesamte Sachverständigenwesen. Will die Kanzlei Gercke Wollschläger uns sagen, dass sie es zwar nicht schafft, auf Kritik rein sachlich zu erwidern, dass aber ihr Gutachten frei ist von sachfremden Anwandlungen? Wer soll das glauben? Und noch eines möchte ich nennen: Das Gutachten stützt einige Thesen auch mit meiner Gesetzeskommentierung zur Beihilfestrafbarkeit, die mehrfach in Fußnoten genannt wird. In derselben Gesetzeskommentierung sage ich allerdings dezidiert, dass Bischöfe sich durch schlichtes örtliches Versetzen eines auffällig gewordenen Priesters wegen aktiver Beihilfe strafbar machen können und dass die Bischöfe in anderen Fällen eine strafbewehrte Pflicht zum Einschreiten gegen Sexualstraftaten ihrer Kleriker haben können. Letzteres vertritt auch der Bayreuther Kollege Bosch in seiner Gesetzeskommentierung. Das wird im Gutachten nicht offengelegt. Und wenn ich dann Kritik am Gutachten äußere, wird mir die Expertise abgesprochen. Nur zur Stützung der Gutachterthesen reicht die Expertise.

Das erste Gutachten wurde vom Erzbistum zurückgehalten, das zweite hat nach der Meinung von Ihnen und Ihren KollegInnen ein "Geschmäckle". Was schließen Sie daraus? Wird es die katholische Kirche Ihrer Ansicht nach je aus eigener Kraft schaffen, die Missbrauchsfälle in den eigenen Reihen adäquat aufzuarbeiten oder muss ihr die weltliche Gerichtsbarkeit stärker unter die Arme greifen?

"Geschmäckle" ist aber recht milde ausgedrückt. Das Gutachten der Kanzlei Gercke Wollschläger sollte zurückgezogen werden! Wenn das Bistum dies aus eigener juristischer Sachkompetenz nicht erkennt und wenn es sich von unserer Kritik nicht vollends erschüttern lässt, sollte sie doch auch das Gercke-Gutachten von Obergutachtern prüfen lassen, jedenfalls zunächst mal den Teil zum staatlichen Strafrecht. Ganz so, wie sie es bei dem Gutachten der Münchener Kanzlei getan hat. Das ist ein Gebot der Fairness. Der Expertise der Kollegen Matthias Jahn und Franz Streng, die das Münchener Gutachten überprüft haben, vertraut das Bistum ja. Das tue ich auch. Ich habe keinen Zweifel, dass die beiden Kollegen, wie jeder Strafrechtslehrer, zahlreiche methodische Mängel benennen würden.

So oder so sehe ich das Gercke-Gutachten als weiteren Beleg dafür an, dass die Kirche die Aufarbeitung nicht allein zu leisten vermag. Die Betroffenenverbände fordern eine vom Staat eingesetzte Wahrheits- und Gerechtigkeitskommission. Diese Forderung halte ich für berechtigt. Wenigstens das ist geboten, da sich ja viele Staatsanwaltschaften in erstaunlicher Zurückhaltung üben!

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