Kommentar

Wer den Rechtsstaat nicht mehr aushält

Im Januar 2025 habe ich unter dem Eindruck zunehmend faktenfreier und rechtlich entgleister Debatten zur Asyl- und Migrationspolitik an dieser Stelle den Beitrag "Migration und Flucht: Rechtsrahmen und Wirklichkeit" veröffentlicht. Darin habe ich die bestehende europarechtliche und völkerrechtliche Lage zusammengefasst – und vor einer Politik gewarnt, die das Recht zur bloßen Kulisse macht. Heute, wenige Monate später, muss ich konstatieren: Die Entwicklung war noch schneller, noch dümmer, noch skrupelloser, als ich damals für möglich hielt.

Notfall?

Politiker wie Friedrich Merz, Alexander Dobrindt oder Carsten Linnemann – aber auch andere – berufen sich auf die Notfallregelung des Artikels 78 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (AEUV), um eine "Asylwende" zu legitimieren. Sie tun es auf eine seltsame Art und Weise – offiziell bleibt der Artikel unerwähnt, taucht aber in Talkshows, Interviews und dergleichen eben doch auf. Doch diese Regelung ist für akute Notsituationen gedacht – nicht für eine strukturelle Neuausrichtung, die den individuellen Anspruch auf Asyl unterläuft. Wer das Gegenteil behauptet, stellt politische Opportunität über Rechtsbindung.

Dabei ist die Berufung auf einen "Notstand" schon auf der Tatsachenebene zweifelhaft: Die Zahl der Asylanträge in Deutschland ist rückläufig, während Staaten an der EU-Außengrenze, die unter weitaus größerem Druck stehen, keine Notstandsklauseln geltend machen. Eine Umfrage unter mehr als 800 deutschen Kommunen und Landkreisen ergab zudem, dass keineswegs alle Kommunen überlastet sind – entgegen der ständig wiederholten Behauptung von Herrn Linnemann.

Die Berufung auf Artikel 78 Absatz 3 AEUV soll kaschieren, dass es an politischem Willen fehlt, ein gerechtes und funktionierendes Asylsystem zu schaffen. Es ist ein Missbrauch der Notfallklausel, der das europäische Asylrecht in ein Instrument politischer Abwehr verwandelt. Und es ist juristisch fragwürdig bis rechtswidrig. Der Sachverhalt liegt bereits bei der EU, wir werden sehen – im Extremfall droht immerhin ein Vertragsverletzungsverfahren.

Das Non-Refoulement-Prinzip ist keine Option

Dass Menschen, die Schutz suchen, an europäischen Grenzen abgewiesen, interniert oder in Drittstaaten abgeschoben werden, obwohl dort kein effektiver Schutz besteht, ist nicht nur moralisch beschämend – es ist ein Bruch des Non-Refoulement-Prinzips aus Artikel 33 der Genfer Flüchtlingskonvention. Auch die EU-Grundrechtecharta und die Europäische Menschenrechtskonvention verbieten solche Praktiken eindeutig.

In diesem Zusammenhang ist die Berufung auf die Notfallregelung des Artikels 78 Absatz 3 AEUV ohnehin irrelevant: Sie stellt lediglich eine unionsrechtliche Verfahrensnorm dar, nicht aber eine Rechtsgrundlage, um völkerrechtlich oder menschenrechtlich garantierte Schutzstandards außer Kraft zu setzen. Es handelt sich hier um einen politisch motivierten Fokus auf einen isolierten Ausschnitt aus einem vielschichtigen Rechtsgefüge – und um eine grobe Verkennung der Bedeutung höherrangigen Rechts.

Dass eine neue Bundesregierung nun unter dem Banner vermeintlicher "Rückführungseffizienz" in diesen Bereich vordringt, zeigt nicht nur eine Verrohung des politischen Diskurses, sondern auch eine Erosion rechtsstaatlicher Mindeststandards.

Wer von Dysfunktionalität redet, muss vom politischen Versagen sprechen

Es ist völlig richtig: Das europäische Asylsystem ist dysfunktional. Nimmt man es wörtlich, belastet es die Staaten an den EU-Außengrenzen übermäßig, gibt dem Binnenstaat Deutschland das Privileg, nach Dublin III alle Asylsuchenden zurückzuweisen, die aus anderen EU-Ländern einreisen und wird von einigen Mitgliedstaaten ohnehin nicht akzeptiert (Polen, Ungarn). Dass durch "pragmatischen" Umgang mit dem System die Schieflage immer größer wird, ist zwangsläufig.

Der Versuch aber, diese Dysfunktion nun durch Entrechtung zu "lösen", ist ein politischer Offenbarungseid. Es ist der Moment, in dem eine demokratische Gesellschaft beschließt, sich ihrer Verantwortung zu entziehen, indem sie die Standards senkt, statt die Praxis zu verbessern.

Der humanistische Rechtsstaat ist kein Dekor

Ein Staat, der das Recht nur noch als dekorativen Rahmen nutzt, wenn es politisch passt, hat begonnen, sich selbst zu entleeren. Die aktuelle Debatte zur Migrationspolitik ist ein trauriges Beispiel dafür. Sie zeugt nicht von Werten, sondern von ihrer Verwässerung unter parteitaktischem Druck.

Wer sich konservativ nennt, sollte vielleicht darüber nachdenken, was er da konservieren will. Wenn es nicht mehr die Unantastbarkeit der Menschenwürde ist, nicht die Bindung an Recht und Gesetz, nicht die europäische Idee gemeinsamer Verantwortung – was bleibt dann übrig?

Deutschlands Rolle in Europa: Kurzsichtigkeit als Strategie?

Was die aktuelle deutsche Politik offenbar unterschätzt, sind die außenpolitischen Spannungen innerhalb der Europäischen Union, die aus einem zunehmend restriktiven Kurs gegenüber Geflüchteten und Migranten erwachsen.

Die Folgen sind bereits sichtbar: Die Einigkeit in der Migrationspolitik bröckelt, Misstrauen wächst, und zentrale Grundpfeiler des europäischen Wertekanons werden zur Verhandlungsmasse. Eine EU, die in Fragen des Flüchtlingsschutzes nicht geschlossen, sondern gespalten auftritt, schwächt nicht nur ihre moralische Glaubwürdigkeit, sondern auch ihre politische Handlungsfähigkeit.

Die neue deutsche Regierung riskiert damit, als treibende Kraft einer Politik wahrgenommen zu werden, die Integration durch Abgrenzung ersetzt und europäische Solidarität durch bilaterales Druckmanagement. Das könnte sich längerfristig als erhebliche Belastung für das europäische Projekt insgesamt erweisen.

Am Ende steht die Entscheidung

Man kann ein Asylsystem reformieren. Man kann Verfahren effizienter, klarer, besser machen. Man kann auch diskutieren, wie man mit begrenzten Ressourcen umgeht. Aber man kann nicht behaupten, das Recht zu achten, während man es systematisch unterläuft.

Die europäische Migrationspolitik steht an einem Scheideweg. Wer ihn rechtsstaatlich und human bewältigen will, muss sich jetzt klar positionieren. Wer stattdessen auf Entrechtung und symbolische Abschreckung setzt, wird sich nicht nur politisch und irgendwann historisch zu verantworten haben – sondern vor dem eigenen Gewissen.

Denn am Ende bleibt die Frage: Wer hält den Rechtsstaat eigentlich noch aus, wenn er unbequem wird? Und was ist das für ein Signal an die Bevölkerung, wenn eine Regierung dazu offensichtlich nicht bereit – oder nicht imstande ist?

Die Aushöhlung rechtsstaatlicher Prinzipien beginnt selten abrupt – sie beginnt mit Worten. Mit der Behauptung, es gehe "nur um Ausnahmen". Mit dem Verweis auf "Notlagen", die sich nicht klar benennen oder nachweisen lassen. Und mit der schleichenden Verschiebung im öffentlichen Diskurs, bei der Schutzrechte nicht mehr als Ausdruck humanitärer Verpflichtung erscheinen, sondern als vermeintliche Belastungen – als würde der Rechtsstaat zur Last. Solche sprachlichen Weichenstellungen bereiten den Weg für politische Maßnahmen, die das einstige Selbstverständliche zur Disposition stellen. Mit einer gesellschaftlichen Routine, die solche Umdeutungen hinnimmt – nicht aus bewusster Gleichgültigkeit, sondern weil sie als pragmatisch empfunden werden: Weil man das Gefühl hat, es müsse "endlich etwas passieren", weil Ängste politisch kanalisiert werden, und weil viele hoffen, mit einem Stück Rechtsverzicht dem rechten Rand das Wasser abzugraben.

Was bleibt: Eine Entscheidung, die nicht unausweichlich ist

Dass rechtsstaatliche Grundsätze im Namen politischer Beruhigung preisgegeben werden, ist kein Naturgesetz. Es ist eine Entscheidung. Dass die Mehrheit diese Entwicklung hinnimmt, mag erklärbar sein – verständlich ist es nicht. Und schon gar nicht zukunftsfähig.

Wer den Rechtsstaat verteidigen will, muss das nicht mit Pathos tun. Es genügt, sich daran zu erinnern, wozu er geschaffen wurde: Um das Recht gegen Stimmung, das Individuum gegen Kollektivdruck und das Prinzip gegen Opportunismus zu schützen.

Die Aushöhlung beginnt oft in kleinen Schritten – aber ihr Verlauf ist keine Einbahnstraße. Gerade in einer Zeit, in der die Sprache kippt, Begriffe verrutschen und Normen weichgeklopft werden, braucht es umso mehr jene, die sich weigern, das alles für normal zu halten.

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