Der katholische Priester Rainer Maria Schießler hat sich negativ über den assistierten Freitod der Kessler-Zwillinge geäußert. Volker Brokop, der sich selbst als nichtgläubigen Menschen und theologischen Laien bezeichnet, hat ihm daraufhin einen Offenen Brief geschrieben, den der hpd im Wortlaut veröffentlicht.
Die Kessler-Zwillinge Alice und Ellen waren ein deutsches Künstlerduo, das gemeinsam als Sängerinnen, Tänzerinnen, Schauspielerinnen und Entertainerinnen arbeitete. Vor allem in den 1950ern und dem darauffolgenden Jahrzehnt waren sie international bekannte Stars. Am 17. November 2025 starben beide gemeinsam im Alter von 89 Jahren durch assistierten Suizid in Begleitung einer Ärztin und eines Juristen mit Hilfe der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS). Wenige Wochen zuvor soll Ellen Kessler einen Schlaganfall erlitten haben.
Guten Tag Herr Pfarrer Schießler,
Zu dem assistierten Freitod der Kessler-Zwillinge haben Sie sich mehrfach öffentlich geäußert, etwa in einem Interview mit domradio.de, in welchem Sie wie folgt zitiert werden:
"Wenn solche Menschen schon diesen Weg gehen, was machen dann wirklich depressive und schwerstkranke Menschen? Wir haben in der Seelsorge solche Fälle und wir begleiten diese Menschen und ihre Angehörigen auf dem letzten Weg zum Friedhof und versuchen zu trösten. Aber wenn solche Menschen so wohl überlegt und durchorganisiert aus dem Leben scheiden, was macht dann einer, der wirklich traurig ist?"
Nun frage ich mich, und damit auch Sie, Herr Schießler, wen Sie, als "solche Menschen" verstehen. Vermutlich all jene, die, Ihren eigenen Worten zufolge "als personifizierte Lebensfreude" geschätzt werden, und deren ganze Karriere darin bestand, "Menschen nicht nur gute Laune zu machen, sondern mit dieser Laune ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern, Hoffnung zu geben." – Dazu frage ich Sie, ob es nicht denkbar ist, und sogar geradezu natürlich – man denke an den schwermütigen Clown – dass auch Lebensfreude vermittelnde Menschen in ihrem persönlichen Leben sehr leidvolle Erfahrungen machen können, vielleicht auch depressive Verstimmungen erleben, die sie auf ihre ganz persönliche Weise bewältigen müssen? Wer entscheidet denn darüber, wer trauriger ist; jemand, bei dem eine Depression diagnostiziert wurde, oder jemand, der einen sehr geliebten Menschen nach dem eigenen Ableben nicht alleine zurücklassen möchte?
So geben Sie zu bedenken: "Aber wenn solche Menschen so wohl überlegt und durchorganisiert aus dem Leben scheiden, was macht dann einer, der wirklich traurig ist?" – Sie trauen sich also ernsthaft zu, von außen darüber urteilen zu können, dass die Kessler-Zwillinge womöglich weniger traurig waren – oder nicht "wirklich traurig" – verglichen mit anderen Menschen in schwer zu bewältigenden Lebenssituationen? Mit welchem Recht, Herr Schießler, tun Sie das, und auf welcher Grundlage?
Ist es nicht vielmehr so, dass hier die althergebrachte kirchliche Überheblichkeit zum Ausdruck kommt, die darin besteht, den Menschen die Fähigkeit zu reifen, selbstbewussten sowie hochverantwortlichen Entscheidungen abzusprechen, sobald diese nicht mit den vorgegebenen Moralvorstellungen und Normvorgaben der Kirche übereinstimmen? Kommt hier also nicht, genereller gefragt, die Angst der Kirche vor dem mündigen und selbstbestimmten Bürger zum Ausdruck, der sich noch dazu in Fragen des Sterbens und des Todes ein eigenes Urteil und Entscheidungsfreiheit zutraut, auf genau jenem Gebiet also, auf welchem sich die Kirche überhaupt noch als einzig kompetente religiöse Instanz inszeniert? Was bleibt denn von der Kirche noch übrig als gesellschaftlich relevante religiöse Institution, wenn ihr die Eschatologie als letztes Kompetenzgebiet auch noch genommen wird, in Zeiten, in denen das religiöse Bewusstsein nach wie vor drastisch schwindet?
Dann setzen Sie, Herr Pfarrer Schießler, als "Gegengewicht" zu der Entscheidung zum Freitod Ihre "Hoffnung auf die Antwort Gottes auf den Tod". Unabhängig davon, wie auch immer diese Antwort biblisch fundiert formuliert werden mag, muss wohl nicht weiter erläutert werden, dass diese Hoffnung für nichtgläubige Menschen naturgemäß absolut irrelevant ist. Sie mögen an ein Leben nach dem Tod glauben, das sei Ihnen unbenommen. Nur sollte man auch als Pfarrer der katholischen Kirche den nichtgläubigen Menschen – nicht lediglich in dieser Frage! – zutrauen, in sorgfältig reflektierter geistiger Eigenständigkeit zu gänzlich anderen Schlussfolgerungen zu kommen, die Ihren und den Überzeugungen Ihrer Kirche absolut gleichberechtigt gegenüberstehen.
Nochmals also sei es mit großem Nachdruck betont, die Zeiten der geistigen und religiösen Bevormundung durch die Kirchen sind zumindest in unserer Kultur längst überwunden! Dieser Hinweis ist deshalb so wichtig, weil Sie, Herr Schießler, es sich nicht nehmen lassen, allen Ernstes hinter der Entscheidung der Kessler-Zwillinge zum assistierten Freitod einen "gewissen Egoismus" zu vermuten, um sogleich die Frage in den Raum zu stellen: "Wie viel Recht kann und darf sich der Mensch herausnehmen?"
Aber ist es nicht eher äußerst egoistisch – und in Ihrem Fall sogar ein Ausdruck einer unzulässigen klerikalen Anmaßung – den eigenen Glauben zum Maßstab für alle anderen erheben zu wollen? Sind die Zeiten, in denen die Kirche sich zum moralischen Richtmaß für die Allgemeinheit erhoben hat, zum Glück nicht schon lange vorbei? Mit welchem Recht stellt die Kirche das Recht eines jeden Menschen in Frage, selbstbestimmt aus dem Leben zu scheiden, sei er nun gläubig oder nicht, sei er nun Mitglied einer Kirche oder nicht?
Es ist durchaus legitim, dass die Kirche als nach wie vor relativ relevante gesellschaftliche Kraft ihre Positionen zu ethischen Fragen zur Diskussion stellt. Aber ob Gott als höchste Instanz über sehr persönliche Entscheidungen relevant ist oder nicht, muss in einer säkularen Kultur in vollem Umfang jedem Einzelnen überlassen bleiben. Dass aber die Kirchen als nach wie vor sehr einflussreiche Lobbygruppe immer dann im Bundestag vorsprechen, wenn es um Debatten zum Schwangerschaftsabbruch geht, oder wenn über den rechtlichen Rahmen des assistierten Suizids verhandelt wird, halte ich aus säkularer Perspektive für zumindest äußerst fragwürdig.
Warum Sie dann sehr stark betonen, dass Sie den Kessler-Zwillingen "natürlich in heftigster Weise davon abgeraten" hätten, sich zu diesem Suizid zu entscheiden, ist nach Ihren zuvor getätigten Äußerungen nicht sonderlich überraschend. Vor Religion, Kirche und Glauben autonome Entscheidungen treffen, da sei Gott vor!
Dies wird auch deutlich in einem Interview, das die Abendzeitung München mit Ihnen, Herr Pfarrer Schießler, geführt hat, worin Sie unmissverständlich erklären: "Meine tiefste Überzeugung ist, dass nicht der Mensch entscheiden soll, wann er geht. Gott, dem wir alle, egal ob schwer gläubig oder nicht, zu verdanken haben, dass wir hier sind, ist auch zu überlassen, wann er uns einberuft."
Genau, nicht der einzelne Mensch soll autonom und selbstbestimmt entscheiden, sondern – ja, wer denn eigentlich dann? Gott hat bekanntlich kein Problem damit, offenbar je nach Lust und Laune, kleine Kinder "zu berufen", oder alternativ sehr alte und schwerstkranke Menschen möglichst lange im Leben und im Leiden zu halten. In der von Ihnen gewählten Diktion jedenfalls kommt klar und ungeschminkt zum Ausdruck, was Sie von Selbstbestimmung halten, wenn Sie freimütig erklären, dass es "Gott zu überlassen ist", zu entscheiden, wann jemand gehen soll, was eine eigene Entscheidung in dieser Frage kategorisch ausschließt.
Dann stellen Sie angesichts offenbar etlicher Menschen, die durch Suizid gestorben sind und von Ihnen beerdigt wurden, die folgende Frage: "Jedes Mal habe ich mir am Friedhof verzweifelt gedacht, warum hat derjenige nicht mit mir gesprochen? Ich bin 24 Stunden erreichbar – warum ist er nicht gekommen?" – Mir als religiös ungläubigem Menschen, der ich ursprünglich mal ohne die Möglichkeit einer Zustimmung oder auch Ablehnung evangelisch getauft worden bin, der aber dennoch niemals Christ gewesen ist, stellt sich diese Frage in Anbetracht der von Ihnen in den beiden hier erwähnten Interviews getätigten Äußerungen ganz gewiss nicht, da sie sich in hervorragender Weise von selbst beantwortet.
Abschließend verleihen Sie, Herr Pfarrer Schießler, Ihrem Unverständnis Ausdruck: Wenn jemand nicht gläubig sei, also dementsprechend auch nicht glaube, dass es nach dem Tod noch weitergehe, warum esse, trinke und lebe ein solcher Mensch "dann nicht umso mehr bis zum Anschlag", sondern setze seinem Leben vorher ein Ende? Vielleicht, so meine ich jedenfalls, weil immer mehr Menschen sich als Herren und Richter über ihr eigenes Leben verstehen, und nicht mehr bereit sind, sich von religiösen Institutionen oder von uralten Büchern in den wichtigsten Entscheidungen ihres Lebens gängeln zu lassen?
In diesem Sinne und mit freundlichsten säkularen Grüßen,
Volker Brokop, Wuppertal, 19.11.2025








12 Kommentare
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Kommentare
Klaus Bernd am Permanenter Link
»Gott, dem wir alle, egal ob schwer gläubig oder nicht, zu verdanken haben, dass wir hier sind, ist auch zu überlassen, wann er uns einberuft." «
»warum esse, trinke und lebe ein solcher Mensch "dann nicht umso mehr bis zum Anschlag" ?«
Der Besuch in einem Hospiz würde dem Herrn Pfarrer diese Frage sofort schlüssig beantworten: weil Essen und Trinken bei manchen Leiden nur mühsam oder gar nicht mehr möglich ist; weil leben bis zum Anschlag bedeutet im Insivbett dahinzusiechen. Bis zum Anschlag !
GeBa am Permanenter Link
Glaube ist und bleibt immer Indoktrination welche das Gegenteil von Selbstbestimmung ist,
Da ist der Islam noch meilenweit davon entfernt, deshalb ist dieser noch derartig Radikal und
Menschenfeindlich ausgerichtet. Ich hoffe, das diese Zwangsgläubigen Islamisten irgendwann
erkennen wie sie von deren Religionsführern benutzt werden für deren Machterhalt.
Nur so kann es Frieden unter den Religionen geben, nämlich, wenn diese entmachtet sind.
Paul München am Permanenter Link
"Außerdem verdirbt man ihm ja die Überraschungsparty" - auch die medizinischen Fortschritte verderben heutzutage die angeblichen Pläne Gottes für den Zeitpunkt der "Abberufung".
Roland Fakler am Permanenter Link
Sehr guter Text! Die Kirche sieht ihre Macht schwinden, wenn die Menschen anfangen selbständig zu denken und nicht mehr an Geister glauben.
Patrique Lafos am Permanenter Link
Danke, Herr Brokop für Ihre deutliche Antwort.
Markus B. am Permanenter Link
Auch wenn ich gläubiger Christ bin, empfinde ich die Äußerungen dieses Pfarrers als sehr unpassend. Dies zeigt mir wieder die viel zu häufig anzutreffende Doppelmoral in der Institution Kirche.
Klar ist es nicht schön, wenn ein Mensch sich zum Suizid entscheidet. Klar sollte es Hilfsangebote geben. Aber letztendlich muss es die Entscheidung des Einzelnen bleiben (dürfen). Und vor allem schwer leidenden Menschen muss meiner Meinung nach ermöglicht werden, sich in aussichtslosen Situationen nach Beratung, Aufklärung und sorgfältiger Abwägung zu erlösen. Alles Andere ist m.E. unmenschlich und auch unchristlich. Meine Meinung.
A.S. am Permanenter Link
Die Kirche sieht ihre Gläubigen als Sklaven an. Die Kirchen-Sklaven dürfen sich nicht davon machen, sie müssen schuften bis zum letzten Atemzug.
Hinter der geheuchelten Fürsorge für die Menschen steht kirchliche Geldgier.
Maro am Permanenter Link
Nur kurz: ich bin bereit meine Haltung zu überdenken, wenn ich einen wissenschaftlichen Beweis für »Gott, dem wir alle, egal ob schwer gläubig oder nicht, zu verdanken haben, dass wir hier sind […].« bekomme.
S. H. am Permanenter Link
Gigantische Anmaßung
Meine Damen und Herren!
Ich kenne keine größere Anmaßung, keinen perfideren Übergriff als den, Menschen weiszumachen, daß sie über ihr Lebensende nicht selbst bestimmen dürften.
Man muß es sich auf der Zunge zergehen lassen: Menschen, die sich für das Sprachrohr einer Gottheit halten (in der Klapse dürften Leute für weniger sitzen), wollen bei Strafe bestimmen, wie lange andere Menschen zu leben haben ... Wann sie sterben dürfen und wann nicht.
Weil ein abgefuckter Spleen, ein imaginäres Alphawesen, eine wie ein Kaninchen aus dem Zylinder gezauberte Gottheit (ersteres ist real, letztere ein abgelutschtes Hirngespinst), genauer: deren Urheber (die nicht zuletzt eigene Interessen auf Kosten anderer verfolgen) es partout so bestimmen.
Das ist so pervers wie kriminell. Mehr Totalitarismus geht nicht.
Es ist ungefähr so, als wenn man den Menschen diktierte, was sie denken dürfen und was nicht.
(Tatsächlich sollten für die Verfasser der "frohen Botschaft" (!) die Gedanken nicht frei sein. ... Gedankenverbrechen gab es laut Bibel nicht nur für den jüdischen Apokalyptiker (und die nachfolgende Pfaffenbrut); die gab es auch in einem rund 1900 Jahre später erschienenen Roman von George Orwell.)
Mehr Diktatur geht nicht.
Ich glaube, den wenigsten Menschen, selbst kritischeren Geistern, mag bewußt sein, was sich diese Leute, deren obskure Organisationen, herausnehmen ...
Daß man über seine Geburt nicht selbst entscheiden kann, liegt auf der Hand. Gleichwohl wurde man nicht gefragt, ob man auf die Welt kommen möchte oder nicht.
Aber ob und wann ich sterben will, das ist allein meine Angelegenheit! Und wenn ich meinem Leben ein Ende setzen will, dann tue ich das.
Niemand hat mir hier irgendetwas zu diktieren!
Schon gar nicht eine Kirche, deren Opfer Legion sind. Schon gar nicht ein "Gott", ohnehin fiktiv, ohnedies imaginär, der aus unsterblichen Lebewesen - Stichwort "Vertreibung aus dem Paradies" - Sterbliche machte, mithin den Tod in die Welt brachte.
Beiläufig: Eine Religion, die aus einem Tier ein Herrentier machte, wohingegen sie alle anderen Tiere zu Futter degradierte.
PS: Es wird höchste Zeit, die rechtlichen Rahmenbedingungen der Sterbehilfe so zu gestalten, daß sie dem Sapiens, der Humanitas Genüge tut. Nicht den Obskuranten, den Pfaffen. Religiösen Fanatikern.
AW am Permanenter Link
Ich habe größten Respekt vor der Entscheidung der Kessler Zwillinge.
Ein guter Artikel. Gute Antwort auf so viel Pfaffengequatsche.
Vielen Dank dafür.
Dr. Ingeborg Wirries am Permanenter Link
Entgegen aller Reden von Nächstenliebe und Barmherzigkeit haben diese sog.
Benjamin Haenle am Permanenter Link
Sehr guter Artikel!