Lehrerinnen-Kopftuch oder Neutralität?

Wie vom hpd bereits berichtet, hat das Landesarbeitsgericht (LAG) Berlin-Brandenburg am 9. 2. 2017 ein aufsehenerregendes Urteil verkündet: Eine muslimische Lehramtsbewerberin war wegen der Weigerung, im Unterricht ihr Kopftuch abzulegen, nicht eingestellt worden. Deswegen wurde ihr eine Entschädigung von 2 Monatsgehältern zugesprochen. Dem kritischen Kommentar wurde zu Recht der Titel "Mehr Fragen als Antworten" gegeben. Doch der Fragenkatalog ist noch zu ergänzen. Es geht um die Auslegung des Berliner Neutralitätsgesetzes unter Berücksichtigung der gegensätzlichen Grundsatzentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) von 2003 und 2015 und die Konsistenz der Entscheidungen des Arbeitsgerichts und des LAG.

Hier sollen keine Detailfragen des konkreten Falls mit genauer Analyse der Entscheidungen des ArbG und des LAG erörtert, als grundsätzliche Fragen besprochen werden. Zunächst erstaunt, dass die Gerichte und die Kommentierungen der beiden Urteile sich nicht mit der grundlegenden Frage beschäftigt haben, wie sich die beiden gegensätzlichen Entscheidungen des BVerfG von 2003 und 2015 zu einander verhalten und ob sich daraus irgendeine Bindungswirkung ableiten lässt. Bei allem geht es aber nicht lediglich um ein Stück Tuch, sondern um grundlegende Fragen des Staatsverständnisses (siehe dazu auch Horst Dreier, FAZ 2017).

Der 2. Senat des BVerfG hatte 2003 eine differenzierende Ansicht vertreten. Damals wurde die Entscheidung überwiegend gerade deswegen heftig angegriffen, weil sie die problematische Zulässigkeit der Präsentation eines religiösen Kleidungsstücks im säkularen Staat großzügig überhaupt ermöglichte. Es gab damals für öffentliche Ämter keine einschränkende gesetzliche Kleiderregelung. Da Lehrern das Recht der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit auch für die Dauer der Berufsausübung unstreitig zuerkannt wurde, zumindest im Grundsatz, musste dieses Freiheitsrecht mit dem für alle öffentlichen Bediensteten geltenden verfassungsrechtlichen Gebot der weltanschaulich-religiösen Neutralität vereinbart werden können. Das war nach damaliger Ansicht möglich, wenn im Einzelfall keine Zweifel an der Einhaltung der Dienstpflichten auch bezüglich der Neutralität ersichtlich waren. Je nach den Verhältnissen durften die zuständigen Länder laut BVerfG das Kopftuchtragen unter bestimmten Voraussetzungen zulassen oder auch nicht. Nur das Land Berlin hat generell das dienstliche Tragen religiöser Symbole aus Gründen der weltanschaulich-religiösen Neutralität untersagt, was im besonders pluralistischen Berlin auch nahelag. Die Entscheidung von 2003 war juristisch stimmig, wenn sie auch im Rahmen der Güterabwägung mit dem Neutralitätsgebot die Glaubensfreiheit stärker gewichtete, als das bis dahin der Fall war. Generell war aber Voraussetzung des Kopftuchtragens die Gewährleistung eines ansonsten neutralen Lehrerverhaltens.

2015 hat die immerhin mit zwei Gegenstimmen ergangene Entscheidung des nunmehr 1. Senats daher großes Aufsehen erregt, weil sie in der Neutralitätsproblematik – einer tragenden Säule der Begründung - erheblich von der früheren Entscheidung des 2. Senats vom 24. 9. 2003 – 2 BvR 1436/02 abweicht. Dem 1. Senat ist offenbar daran gelegen, die Integration "der Muslime" durch Stärkung des Faktors Religion zu verbessern. Das entspricht dem Anliegen der herrschenden Politik, die seit 2010 alles daran setzt, den staatlichen islamischen Religionsunterricht und die dazugehörige Lehrerausbildung auf breiter Ebene zu etablieren, und zwar ungeachtet aller organisationsrechtlichen und inhaltlichen verfassungsrechtlichen Hürden und trotz der teilweise erheblichen Differenzen zwischen den wichtigeren islamischen Verbänden. Ob diese Position aber einer wohlverstandenen Integration der Menschen aus dem islamischen Kulturkreis wirklich dient, ist zu bezweifeln. Der Senatsmehrheit hätte schon zu denken geben sollen, dass, neben säkularen Stimmen, u.a. auch die aus dem islamischen Kulturkreis stammende Alevitische Gemeinde Deutschland e.V. im Anhörungsverfahren erklärt hat, sie sei gegen das Kopftuchtragen von Lehrerinnen oder anderen Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, da der Staat in diesem Bereich seine strikte Neutralität wahren müsse. Ausführlicher hat der Verband Bildung und Erziehung e.V. die Verfassungsbeschwerden bezüglich des Schulgesetzes von Nordrhein-Westfalen für unbegründet gehalten. Gerade in Nordrhein-Westfalen zeige sich, dass die Schule vermehrt zu einem Ort werde, der mit unterschiedlichen politischen, religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen konfrontiert werde. Es sei daher wichtig, dass der Staat eine neutrale Haltung einnehme.

Die neue Entscheidung des BVerfG bewertet die Religionsfreiheit besonders stark und damit das Neutralitätsgebot zu gering. Denn sie gibt einen grundsätzlichen Anspruch auf das Kopftuch, und die Voraussetzungen für Ausnahmen muss die Schule beweisen. Wegen der praktischen Schwierigkeiten eines Vorgehens gegen Kopftuchträgerinnen kann von einer nicht mehr neutralen erheblichen Stärkung der islamischen und islamistischen Position in der Praxis ausgegangen werden. Generell kann man nicht behaupten, dass Religion im pluralistischen Staat ein besonderes Moment der gesellschaftlichen Gesamtintegration sein könnte. Schule ist nicht vorrangig ein Ort der Glaubensausübung, sondern ein Ort der Wahrnehmung dienstlicher Pflichten (vgl. Art. 33 V GG). Dass Lehrer ihre persönlichen religiösen Überzeugungen völlig unterdrücken müssen, kann von ihnen ohnehin nicht verlangt werden. Naheliegender erscheint demgegenüber die folgende Überlegung. Wenn eine muslimische Lehrerin nicht einmal bereit ist, für die begrenzte Zeit ihrer theoretisch neutral zu gestaltenden Tätigkeit in der Schule auf eine religiöse Demonstration zu verzichten, wie glaubwürdig ist dann ihre weltanschaulich-religiöse Neutralität? Der Ausgangspunkt des Gerichts, das Verbot des Kopftuchtragens sei ein schwerer Grundrechtseingriff, ist verfehlt, weil das Grundrecht von vornherein von der dienstrechtlichen Neutralitätspflicht überlagert wird. Der 1. Senat bevorzugt alle religiösen Überzeugungen mit sichtbaren Kleidungsteilen. Die zunehmend nichtgläubigen Lehrer (nach der großen ALLBUS-Studie von 2012 glaubten nur 25 % der Befragten an einen persönlichen Gott) haben kein imperativ erforderliches Symbol, das sie präsentieren könnte, und werden so indirekt diskriminiert.

Mit der Entscheidung von 2003 konnte Jeder leben, von der Kehrtwende kann man das nicht sagen. Viele Verfassungsjuristen sind im Übrigen davon überzeugt, dass der 1. Senat gemäß § 16 des Gesetzes über das BVerfG wegen der unterschiedlichen Ansichten beider Senate eine Plenarentscheidung des gesamten Gerichts hätte herbeiführen müssen. Nicht einmal inhaltlich auseinandergesetzt hat sich der 1. Senat mir der des 2. Senats – auch eine grobe Unhöflichkeit.

Welche folgen diese Divergenz haben kann, zeigt der soeben vom LAG entschiedene Fall. Auch das LAG hat sich einfach die Position der (neueren) Entscheidung des 1. Senats zu eigen gemacht, ohne die Existenz des Urteils des 2. Senats zu beachten. Aber die Entscheidungen der beiden Senate sind gleichrangig, ohne dass ein zeitlicher Vorrang besteht. Tragende Gründe beider Entscheidungen sind, soweit hinreichend bestimmt, die Ausführungen zu Religionsfreiheit und Neutralität, in jeweils unterschiedlicher Richtung. Das bedeutet, dass keine Entscheidung irgendeine Bindungswirkung haben kann. Folglich können derzeit Behörden, Gerichte und Parlamente das GG relativ frei interpretieren. Die Länder sollten ihre Gesetze gründlich nach Klarheit, Widerspruchsfreiheit und hinsichtlich ihrer Auswirkungen überprüfen. Ein generelles Verbot religiöser Kleidung von öffentlichen Bediensteten wäre wohl in der Regel die beste Lösung.

Im konkreten Fall haben sich die Arbeitsgerichte bedauerlicherweise mit der Entscheidung von 2003 gar nicht auseinandergesetzt und damit ein ungutes Signal gegeben. Hoffentlich wird das BAG, wenn es vom Land Berlin angerufen wird, professioneller vorgehen. Man darf jedenfalls nicht zulassen, dass das staatskonstituierende Gebot der weltanschaulich-religiösen Neutralität noch weiter ausgehöhlt wird, als das ohnehin der Fall ist.


Ergänzend wird verwiesen auf diese hpd-Artikel: