Interview mit Andreas Altmann

Der Reisende wird etwas lernen

Am Dienstag wurde das Buch "In Mexiko – Reise durch ein hitziges Land" von Andreas Altmann veröffentlicht. hpd-Chefredakteur Frank Nicolai stellte dem Autor einige Fragen nicht nur zum Buch.

hpd: Weshalb Mexiko? Was treibt Sie in ein Land, in dem das Leben extrem gefährlich ist?

Andreas Altmann: Zuerst treibt mich der schlichte Gedanke um, dass ich Knete verdienen muss. Und da ich nichts anderes kann – böse Menschen behaupten, nicht einmal das, das Schreiben, kann ich – muss ich hinaus in die Welt. Meinem stadtbekannten Kollegen Goethe gaben die Götter die Inspiration im Schlaf, mir nicht, ich muss rennen und schuften und malochen. Ach, Mexiko, nun, nach vielen Jahren bin ich "streetwise" geworden, einer eben, der weiß, wie er sich auf der Straße zu benehmen hat: um nicht gleich im erstbesten Kugelhagel zu landen. Und dann – klar, wohl am wichtigsten – braucht der Mensch Glück. Ich hatte es, wieder einmal vollkommen unverdient. Und waghalsig wie ich bin, habe ich es angenommen.

Sie haben in Ihrem Buch einige Orte und Szenen beschrieben, die für ängstliche Mitteleuropäer (wie mich) vermutlich eher nicht als Reiseziel in Frage kämen. Sind Sie echt so angstfrei?

Haha, gewiss nicht, grundsätzlich bin ich mal Feigling, aber noch mehr Angst habe ich vor dem Eingeständnis, dass ich feig bin. Das darf nicht sein. Ich will nicht als Hasenfuß auf dem Totenbett faulen und in Tränen ausbrechen. Ich mag das jiddische Wort "chuzpe", Frechsein, Nonchalance, drauflosgehen. Ich bin nie tollkühn, ich überlege mir immer vorher, ob ich in die oder die Gefahr hineingehe. Und wenn ich denke, nee, das ist mir zu heiß, dann bleibe ich hübsch draußen.

Ziemlich zu Beginn des Buches berichten Sie über Mexiko-City und den dortigen Irrsinn, das Rauchen auf der Straße verbieten zu wollen und auf der anderen Seite erstickt die Stadt im Smog aus Millionen Autos. Haben Sie diesen Unfug: Etwas, was nichts kostet, einzufordern und etwas, das viel kostet, blind zu ignorieren, anderenorts auch erlebt?

Nun, wir alle sind Opfer politischen Idiotismus, Mexiko nicht mehr als andere Länder. Zum Schreien komisch, wenn ich höre, dass in Deutschland ein paar Straßen in Großstädten für Dieselautos gesperrt werden, haha, unsere Erde verreckt und wir Debile verordnen ein paar Meter Fahrverbot. Klar, nicht nur nur der nackte Irrsinn schafft hier an, es geht auch um Geldkisten, um Lobbying, um gnadenlosen Egoismus.

Cover

Wo wir gerade über Unfug und Irrsinn sprechen: Sie zitieren das wundervolle Gedicht von Eugen Gomringer "Avenidas" (Avenuen). Was fällt Ihnen spontan dazu ein, dass dieses Gedicht als sexistisch gebrandmarkt von der Wand einer Schule in Berlin verschwinden musste?

Ach, da muss ich mich selbst zitieren, mitten aus dem Buch. Vorweg noch: Schwachköpfigkeit ist natürlich kein Alleinstellungsmerkmal bei Politikern, nein, sie erwischt so viele, quer durch alle Geschlechter, quer durch alle Bevölkerungsschichten, diesmal – siehe die Wut auf dieses Gedicht – hat sie bei Akademikern zugeschlagen. Man kann – schier unglaublich – eine Hochschule besuchen und trotzdem hirnlos bleiben. Hier nun die Stelle aus dem Buch:

"Ich greife (weit) voraus: Als ich nach Paris zurückkomme, erfahre ich, dass dieses Gedicht auf einer der Fassaden der Alice Salomon Hochschule in Berlin geschrieben steht. Da Gomringer der Poetikpreis dieser Universität zuerkannt worden war, 2011. Bis dato alles höchst erfreulich. Jetzt aber, Jahre später, beschloss der Allgemeine Studentenausschuss mehrheitlich, dass diese acht Zeilen verschwinden sollen, denn, so die Begründung dieser außer Rand und Band geratenen Spießer: 'Das Gedicht wirkt wie eine Erinnerung daran, dass objektivierende und potenziell übergriffige und sexualisierende Blicke überall sein können'. Dieses Statement (von der formalen Grässlichkeit einmal abgesehen), dieser 'barbarische Schwachsinn', so Christoph Hein, der Ehrenpräsident des deutschen PEN, hatte Folgen: Der zuständige Rektor der Uni, Uwe Bettig, war zwar nicht der Meinung dieser moralinsauren Würstchen, doch Waschlappen genug, der Forderung stattzugeben und die Gestaltung der Fassade neu ausschreiben zu lassen.
Wo werden wir enden, wenn Leute – deren obere Schädelhälfte vor langer Zeit mit Holzwolle ausgestopft und anschließend vakuumverpackt wurde – uns anweisen, wie wir zu leben haben? Wird dann jeder Aktfotograf an die Wand gestellt? Jedes Aktmodell geteert? Und die anderen Verdächtigen gleich mit, die Filmemacher, die Bildhauer, die Schriftsteller, die Modedesigner? Werden sie, die Frusthennen und geifernden Gockel, bald jedes Gemälde, jede Filmsequenz, jede Skulptur, jede Abendrobe, sprich, alles, was die Schönheit der Welt, die Faszination einer Frau, das Spiel zwischen Frau und Mann feiert, als entartete Kunst brandmarken und alles – die Nazis könnten als Vorbild taugen – niederbrennen? Mitsamt allen Büchern, in denen Sätze stehen, die sie an ihre eigensten, tief im Unbewussten verscharrten Sehnsüchte erinnern? Was machen wir dann, wenn diese vor Tugend stinkenden, von jedem Sinn für Poesie entledigten Nilpferde unser Leben 'aufräumen' und kein Leben mehr übrig bleibt?"

Zurück nach Mexiko: Sie schreiben viel über die Busfahrten durchs Land und die Menschen, die Sie dabei kennengelernt haben. Nun weiß ich, dass Sie ein hervorragender Zuhörer sind; aber konnten Sie wirklich etwas über das Land erfahren, wenn Sie sich mit Menschen im Bus unterhalten? Fehlen da im Bild nicht die "harten Jungs" in schweren Karossen?

Na ja, ich treffe Frauen und Männer nicht nur im Bus, als Busherumhocker, der gemütlich mitschreibt, nein, die meiste Zeit treibe ich mich außerhalb von Bussen herum. Und die Gewalt, Himmel, die Bösen, die Mordbuben, die Kopfabhacker, Himmel, die kommen auch vor im Buch.

Am Ende des Buches resümieren Sie, dass eine Reise durch Mexiko vor allem etwas mit dem Reisenden macht: Es verändert ihn. Was bleibt bei Ihnen von Mexiko?

Nee, "verändert" habe ich nicht geschrieben, aber etwas "lernen" wird der Reisende, nicht nur über Mexiko, nicht nur über die Mexikanerinnen und Mexikaner, sondern – wenn er sich nur traut hinzuschauen – auch über sich: seine Eitelkeiten, seine Ängste, seinen Rassismus, seinen Geiz, seine Ratlosigkeit, seine Mittelmäßigkeiten. Natürlich bin ich außerstande, auf die Frage "was bleibt" zu antworten. Veränderungen in einem Menschen sind so leicht nicht festzumachen, viele Vorgänge spielen sich unbewusst ab, werden erst lange danach klar und erkennbar. Aber wenn es denn sein muss, hier einer meiner Lieblingssätze, leider nicht von mir, sondern von dem amerikanischen Autor Henry James. Seine Weisheit erschien mir auf dieser Reise jeden Tag noch weiser, sie taugt für uns alle, gerade angesichts der Scheiße, in der so viele leben. Nun aber der Ami und seine fulminante Einsicht: "Three things in human life are important: the first is to be kind; the second is to be kind; and the third is to be kind."