Rede von Kristina Hänel

"Der unsägliche Unrechtsparagraf 219a muss endlich abgeschafft werden!"

Am vergangenen Samstag demonstrierten bundesweit mehr als 6.000 Menschen für die Abschaffung des umstrittenen Paragrafen 219a StGB, der es ÄrztInnen verbietet, über Schwangerschaftsabbrüche zu informieren. In Gießen sprach die Ärztin Kristina Hänel, die zu einer Geldstrafe verurteilt wurde, weil sie auf ihrer Website Informationen über Abtreibungen bereitgestellt hatte. Der hpd dokumentiert die Rede in voller Länge.

Liebe Mitstreiter*innen!

Es reicht! In mehr als 30 Städten gehen heute in Deutschland Menschen auf die Straße um für ihre Rechte zu streiten. Es geht um grundlegende Freiheits- und Menschenrechte. Frauen sind Menschen. Sie haben ein Anrecht auf Information, auf Würde, auf freie Arztwahl. Auf Unversehrtheit ihres Körpers auch und gerade beim Schwangerschaftsabbruch.

Die UN-Vereinten Nationen gaben am 14. Juli 1974 in CEDAW – dem Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau eine Stellungnahme ab, die von Deutschland unterzeichnet wurde. Darin heißt es u.a. die Kriminalisierung von Abtreibung oder Verzögerung einer sicheren Abtreibung wird abgelehnt. Im Bericht werden u. a. auch sexualisierte Gewalt, erzwungene Schwangerschaft oder erzwungene Abtreibung abgelehnt. CEDAW spricht in diesem Kontext von Folter sowie von grausamer, inhumaner und erniedrigender Behandlung.

Das ist das, was ich täglich in meiner Praxis erlebe. Ich erlebe, dass Frauen, dadurch, dass ihnen Informationen vorenthalten werden, oft in Arztpraxen und auch in Beratungsstellen desinformiert, gedemütigt und nicht entsprechend aufgeklärt werden. Sie finden dann den Weg zum Abbruch manchmal kaum, sie kommen Wochen später, haben dann schon mehrere frustrane Anrufe in Arztpraxen oder Kliniken hinter sich, die sie beschimpfen und ihnen nicht weiterhelfen. Wir erleben das in unserer Praxis hier in Gießen jede Woche. Dabei hat der Staat den Auftrag, ein flächendeckendes Netz an ambulanten und stationären Möglichkeiten zum Schwangerschaftsabbruch zur Verfügung zu stellen. Aber das Gegenteil ist der Fall.

Ich bin Ärztin, ich halte es für meine ärztliche Pflicht, Frauen zu behandeln und zu informieren. Ich empfinde es als eine Frage des Gewissens, Frauen eben nicht die für sie notwendige Hilfe zu verweigern und sie damit wieder dem Kleiderbügel oder der Stricknadel auszuliefern. Ich wurde angezeigt, angeklagt und zu 6.000 Euro Geldstrafe verurteilt, nur, weil ich auf meiner Webseite sachliche Informationen zum Schwangerschaftsabbruch zur Verfügung stelle. Zwei Abtreibungsgegner tyrannisieren seit Jahren in ganz Deutschland Ärzte und Ärztinnen mit bisher Hunderten von Strafanzeigen. Sie beschäftigen Polizei, Staatsanwaltschaften und die Justiz. Das alles zahlt der Staat. Die Folge ist, dass immer weniger Ärzt*innen Abbrüche machen, es nirgends in der Ausbildung thematisiert wird, weil bereits Dozierende sich im Dschungel der Strafjustiz nicht verfangen wollen, ein Bischof seine Informationen über Beratungsstellen von der Homepage nimmt, obwohl er ja gar keine Abbrüche macht, also deswegen auch keinen Vermögensvorteil haben kann, usw… Die Lage ist absurd und die meisten Leute haben eine klare Meinung: der unsägliche Unrechtsparagraf 219a aus dem Jahr 1933 muss endlich abgeschafft werden!

Das sieht auch die Mehrheit in der Politik so. Aber sie handeln nicht danach. Vier Parteien haben sich eindeutig für eine Abschaffung des 219a ausgesprochen: Die Grünen, die Linke, die FDP und die SPD. Nach langen, zähen Verhandlungen kam die Groko jetzt mit einem Vorschlag, in dem der Paragraf 219a beibehalten werden soll. Die Frage, ob Ärzt*innen künftig sagen dürfen, ob sie Abbrüche machen oder nicht, ist zwischen SPD und CDU/CSU noch nicht abschließend geklärt. Sicher ist aber, dass meine Homepage weiterhin strafbar bleibt. Das ist eine Null-Nummer! Uns reicht es jetzt. Alle anderen Vorschläge in dem Papier sind bereits jetzt erlaubt. Die zuständigen Behörden haben jahrelang billigend und vielleicht sogar gewollt in Kauf genommen, dass sich die Situation für Frauen im Falle einer ungewollten Schwangerschaft immer weiter verschlechtert hat. Durch meinen Fall ist eine breite Bewegung entstanden. Sie hat dafür gesorgt, dass offizielle Listen mit Adressen veröffentlicht werden. Gießen zum Beispiel ist dabei. Dass die Ausbildung zum Schwangerschaftsabbruch ins Studium kommt, die Medical Students For Choice haben das bereits in mehreren Städten erwirkt. Dass Ärzte und Ärztinnen begreifen, dass sie sich des Themas annehmen müssen, und die Weigerung, Abbrüche zu machen, nicht länger mit ihrem Gewissen vereinbaren können. Im letzten Jahr waren allein in meiner Praxis vier Kolleginnen und Kollegen, Studierende und Ärzt*innen, die hospitiert und mitgearbeitet haben mit dem Ziel, später Abbrüche zu machen! Das hat es in 30 Jahren nicht gegeben. Wir haben schon so viel erreicht!

Die Bundesregierung erlaubt sich weiterhin, den Zug der Zeit zu verschlafen. Wir leben nicht mehr im Mittelalter! Den Menschen wurde die Bibel übersetzt, sie durften letztlich selber lesen, woran sie glauben sollten. Heute leben wir in einem zur weltanschaulichen Neutralität verpflichteten Staat. Keine Regierung ist verpflichtet, die Interessen einer kleinen fundamentalen, religiös ideologisch agierenden Minderheit der Mehrheit der Bevölkerung aufzuzwingen. Die Interessen des Papstes, der mich Auftragsmörderin nennt und die Hälfte der Menschheit zu potentiellen Mörderinnen erklärt, haben in der deutschen Gesetzgebung nichts zu suchen. Davon abgesehen, dass diese radikale frauenverachtende Haltung ja nicht mal bei den katholischen Gläubigen geteilt wird.
Der Entwurf der Groko soll Ende Januar/Anfang Februar in den Bundestag. Es könnte zu einer Abstimmung kommen. Argumente der "Abtreibungsgegner", man müsse nun endlich mal die seelischen Folgen des Abbruchs erforschen, sind unzensiert ins Papier übernommen worden. Jetzt wissen wir auch, warum Seehofer zuletzt zu Barley, Giffey, Braun und Spahn dazukam. Das bisher nicht funktionierende Modell aus Bayern, wo nicht mal die Beratungsstellen Adressen rausgeben dürfen, sondern staatlich beauftragte Ämter – neben den Gesundheitsämtern übrigens auch die Veterinärämter- soll dann für ganz Deutschland abgekupfert werden. Nein danke! Wir wollen das alles nicht. Wir brauchen das nicht.

Wir Frauen – und jetzt spreche ich nicht als Ärztin – sondern einfach als Frau, wissen sehr genau, ob wir Mutter werden wollen oder nicht. Wir wissen sehr genau, wie lange unsere Kräfte reichen, um Kinder, Angehörige, Kranke zu pflegen. Denn wir sind es ja, die das überwiegend tun. Niemand hat ein Anrecht auf unseren Körper! Niemand. Weder um sich dort ungewollten oder gekauften Sex zu holen, noch um uns ungewollt seinen Samen einzupflanzen, noch um uns im Falle einer ungewollten Schwangerschaft als unbezahlte Leihmütter im Auftrag des Staates oder irgendeiner anderen Kraft zu benutzen. Wir können das alles selbst entscheiden. Wir durften lesen und schreiben lernen, also gibt es keinen Grund, uns daran zu hindern, Informationen, die für unsere Gesundheit und unseren Körper wichtig sind, vorzuenthalten. Weg mit staatlicher Zensur!

Im Zwischenbericht von CEDAW zum periodischen Staatenbericht Deutschlands vom 9. März 2017 heißt es: "… empfiehlt der Ausschuss, dass der Vertragsstaat
(a) gewährleistet, dass moderne Verhütungsmittel überall im Staatsgebiet für alle Frauen und Mädchen zugänglich, finanzierbar und verfügbar sind, insbesondere für diejenigen, die in Armut und /oder in abgelegenen Gebieten leben;
(b) den Zugang zu sicherem Schwangerschaftsabbruch sicherstellt, ohne der Frau eine verpflichtende Beratung und eine dreitägige Wartezeit aufzuerlegen, welche von der WHO für medizinisch nicht erforderlich erklärt wurde, und gewährleistet, dass solche Eingriffe von der Krankenversicherung übernommen werden …"

Davon sind wir Meilen entfernt. Der Staat stellt sich auf die Seite der feigen Denunzianten, indem er ihnen mit dem 219a Tür und Tor öffnet. Die Regierung soll endlich machen, was ihre Aufgabe ist und die Empfehlung der Vereinten Nationen, die sie unterzeichnet hat, umsetzen! Wir appellieren an alle Bundestagsabgeordneten – in diesen Tagen natürlich geht ein ganz besonderer Appell an die SPD,- aufzuhören mit dem ambivalenten "Rumgeeiere". Das kann sich übrigens auch keine einzige Betroffene im Fall einer ungewollten Schwangerschaft erlauben. Endlich Schluss machen mit Heuchelei, Doppelmoral und fundamentalistischem Irrsinn: Weg mit dem Paragrafen 219a und ran an die Arbeit: sicherer Zugang und Informationen zum Schwangerschaftsabbruch, Zugang zu Verhütungsmitteln, für eine kindergerechte Gesellschaft, Freiheit von sexueller Gewalt. Für sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung aller Menschen!