Kriminologe Christian Pfeiffer in Oberwesel

Der Missbrauchsskandal und religiös motivierte Gewalt an Kindern

Ein prominenter Gast hat auf dem Stiftungssitz der Giordano-Bruno-Stiftung (gbs) in Oberwesel sein aktuelles Buch "Gegen die Gewalt – Warum Liebe und Gerechtigkeit unsere besten Waffen sind" vorgestellt: Prof. Christian Pfeiffer, früherer Lehrstuhlinhaber für Kriminologie, Jugendstrafrecht und Strafvollzug an der Universität Hannover und ehemaliger Justizminister Niedersachsens sowie langjähriger Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, machte sich auch damit einen Namen, dass er die Zusammenarbeit mit der Bischofskonferenz zur Erstellung der Studie über den Missbrauch in katholischen Einrichtungen beendete, nachdem Unabhängigkeit und Freiheit der Forschung nicht gewährleistet waren. Das Thema Missbrauch von Kindern in Glaubensgemeinschaften bildete den Schwerpunkt seines Vortrags am vergangenen Wochenende.

"Auch heute noch, muss man sagen, nach all den Skandalen, ist offenbar für die Kirche die Lösung des Problems gefährlicher als das Problem selbst", sagte Jacqueline Neumann vom Direktorium des Instituts für Weltanschauungsrecht (ifw) in ihrer Begrüßungsrede über den Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche. "Ich stelle mir die Frage, was noch alles geschehen muss, damit die kirchlichen Funktionäre – und teilweise auch die weltlichen Amtsträger in unserem Staat – das Missbrauchssystem und dessen Vertuschung als gefährlicher ansehen als die Lösung dieses Problems."

Pfeiffer begann seinen Vortrag jedoch zunächst mit der Generellen Verquickung von Religon und Gewalt an Kindern und mit einem Zitat aus einem evangelikalen Erziehungsratgeber des US-amerikanischen Ehepaares Pearl: "Das Kind sollte (…) die Rute in Ihrem ganzen ruhigen, überlegten und beherrschten Geist kommen sehen. (…) Nehmen Sie sich Zeit zum Erklären und schlagen Sie weiter, hören Sie mit Ihrer Disziplinierung nie auf, bevor das Kind sich ergeben hat." In Deutschland sei das Buch auf Betreiben des Kinderschutzbundes mittlerweile verboten, aber unter anderem Namen neu erschienen.

Hierzulande gebe es nur 0,5 Prozent evangelikale Christen, in den USA jedoch seien es bis zu 50 Prozent, auch in Südamerika gewännen die Freikirchen immer mehr Anhänger. Eine Befragung unter Jugendlichen in den USA habe ergeben, dass die evangelischen Freikirchen die Gruppe seien, die ihre Kinder am meisten prügelten. Juden hingegen lehnten Gewalt gegen Kinder zu zwei Dritteln ab. Und eine weitere Korrelation ließ sich erkennen: Je gläubiger die Eltern, desto mehr schlagen sie ihre Kinder.

Die Quote der gewaltfrei Erzogenen unter den Evangelikalen entspreche mit 21 Prozent der des Dritten Reiches. "Man kann pauschal sagen, die sind einfach stehen geblieben bei den alten Erziehungsüberzeugungen", so der Kriminologe. Der Glaube an die Erbsünde habe die Menschen auch schon früher zu der Überzeugung gebracht, dass man Kindern den Teufel aus dem Leib prügeln müsse. Bis zur Aufklärung sei man der Meinung gewesen, dass man nur durch Schläge zu einem anständigen Menschen heranwachsen könne.

Dann wandte Pfeiffer sich dem katholischen Missbrauchsskandal zu: Es sei die einschneidendste Erfahrung seines ganzen Wissenschaftlerlebens gewesen, berichtete der Justizminister a. D., als die Bischöfe so massiv in seine Forschung eingreifen wollten. Sein Plan war, dass die Daten aus den Akten getrennt für jede Diözese von ehemaligen Staatsanwälten und Strafrichtern erhoben werden ("erfahrene Profis, die wissen, wie man mit Akten umgeht"), um festzustellen, wie mit Tätern umgegangen wurde, ob sie aus dem Dienst entfernt oder nur versetzt wurden. Auch hätte er die Opfer befragt, wie sie behandelt wurden, ob sie unter Druck gesetzt wurden, alles intern zu halten, "damit die gute Kirche nicht leidet". "Diese Beeinflussung (…) wollten wir lückenlos erfassen (…), das war alles vereinbart."

Schuld ist der Zölibat

Konservative Kirchenvertreter hätten sich jedoch unzufrieden damit gezeigt, dass der Beirat, in dem sie saßen, nur beratende Funktion haben sollte. "Wir sind doch die Fachleute der Kirche, wir müssen Ihnen doch sagen, wie die Daten zu interpretieren sind, damit Sie keine Fehler begehen", habe Peter Beer, Generalvikar von München und Freising, in der ersten Sitzung zu ihm gesagt. Das Erzbistum habe einen neuen Vertrag mit Übertragung von Entscheidungs- und Kontrollrechten gefordert: Jeder Text hätte den Kirchenfunktionären zur Kontrolle vorgelegt werden müssen, Veröffentlichungen wären nur nach Genehmigung möglich gewesen. Christian Pfeiffer lehnte dies als Zensur ab. Daraufhin seien München/Freising und Regensburg einfach nicht mehr erschienen und hätten so den Beirat blockiert. Es sei "strategisch dumm" gewesen, die konservativen Gegner dazuzuholen, die man überzeugen und nicht außen vor halten wollte, sagt der Wissenschaftler heute.

Eine Anwältin sei daraufhin beauftragt worden, eine eigene Forschung nur für München/Freising durchzuführen, die seitdem unter Verschluss sei. "Niemals werden Sie das zu sehen kriegen", habe Beer zu ihm über die Daten der Amtszeit von Joseph Ratzinger in München/Freising gesagt. "Diese Daten wurden uns von vornherein vorenthalten. (…) Soweit die Transparenz", konstatierte Pfeiffer. Derselbe Kardinal Marx, der beim Kinderschutzgipfel im Vatikan eine fulminante Rede über Transparenz gehalten habe und über einen Neuanfang, dessen Voraussetzung ein radikales Öffnen der Akten sei, "verhindert durch sein Einschreiten, dass wir Wissenschaftler Diözese für Diözese eine Kultur der Verantwortung kreieren können". Eine einzelne Doktorarbeit habe abgeschlossen werden können, bevor die Zusammenarbeit mit den katholischen Bischöfen scheiterte: Dabei stellte sich heraus, dass die Opfer schwerer mit dem, was ihnen angetan wurde, umgehen konnten, je gläubiger sie waren.

Die neuen Wissenschaftler, die die Missbrauchsstudie letztlich für die Deutsche Bischofskonferenz durchführten, hätten einen von der Kirche selbst hergestellten Datensatz erhalten, der von eigenen Mitarbeitern erarbeitet wurde, ohne dass es eine Kontrolle darüber gegeben hätte, welche Akten sie einbeziehen und welche nicht. Außerdem sei in dieser Studie nicht zwischen Diözesen differenziert worden, es gebe nämlich auch positive Beispiele wie das Bistum Osnabrück oder das Bistum Hildesheim, wo man bei Probeerhebungen gut zusammengearbeitet habe. "Marx hat mit dieser zweiten Forschung durchgesetzt, dass es nur Vertuschung gegeben hat. (…) Das ist das Gegenteil von Transparenz." Deswegen hatte Christian Pfeiffer seinerzeit den Rücktritt des damaligen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, gefordert.

Als Hauptgrund für den Missbrauch durch Priester sieht der frühere niedersächsische Justizminister den Zölibat. In den USA habe man herausgefunden, dass nur fünf Prozent der geistlichen Täter pädophil gewesen seien. Die Hochzeit des Missbrauchs seien die 50er, 60er und die frühen 70er Jahre gewesen, eine "Zeit der rigiden Sexualmoral". "Je mehr (…) die kirchlich geprägte Sexualmoral an Macht verlor, je mehr die Menschen machten, was sie wollten, umso mehr Chancen hatten die Priester, ihre eigentlichen Zielpersonen zu finden. (…) Der Zölibat verlor seine Macht. (…) Das war der große Veränderungsfaktor, der den Missbrauch nach unten gebracht hat. Am Ende blieben nur noch die Pädophilen übrig, wir hatten keine Ersatzhandlungen mehr." Nun müsse der Zölibat endlich auch formell freiwillig werden. Und wenn schon Ehelosigkeit, müsse diskutiert werden, ob dies immer auch Keuschheit bedeute.

Neuer Ansatz im Missbrauchsskandal: Entschädigung statt Strafverfolgung

Was strafrechtliche Konsequenzen angeht, sieht der Kriminologe aufgrund der geltenden Verjährungsfristen kaum Anhaltspunkte, noch nicht verstorbene Täter, bei denen die Taten bekannt sind, zu bestrafen. Eventuell könnten in einzelnen Bistümern, die eigenständig radikale Transparenz betrieben, noch Fälle zutage gefördert werden, wo Strafverfahren noch möglich sind, sollte nicht vorab eine Bereinigung stattgefunden haben. Erfolgversprechender wäre jedoch ein auf die Institution Kirche abzielender zivilrechtlicher Ansatz – was im Strafrecht aufgrund des Schuldprinzips nicht möglich sei –, um angemessene Entschädigungszahlungen zu erreichen, ergänzte ein ifw-Beirat aus dem Publikum.

Die Ermittlungen zu den 27 Strafanzeigen, die Strafrechtsprofessoren des ifw gegen alle deutschen Bistümer gestellt hatten, seien nach Rückmeldung fast aller Staatsanwaltschaften größtenteils wieder eingestellt, sofern sie denn aufgenommen worden waren, ergänzte Jacqueline Neumann auf Nachfrage. Die vom ifw geforderten Durchsuchungen habe es nicht gegeben, da die Kirche kooperierte. Das sei aber alles nur Show gewesen, meint Christian Pfeiffer, es sei von vornherein klar gewesen, dass nichts dabei herauskommen würde. "Nur das Zivilrecht kann helfen, dass den Opfern endlich Gerechtigkeit widerfährt (…), die Geschichte mit den Tätern ist weitgehend gelaufen."

Zum Schluss richtete der Kriminologe einen Appell an Kardinal Marx: Er müsse den Panzerschrank in München öffnen, in dem die bereits erwähnte 350 Seiten starke Studie über sein Bistum lagere. "Es ist absurd, wenn er seine flammenden Reden über Transparenz hält und bis heute keine Angst davor hat, dass irgendjemand sagt: 'Öffnen Sie den Panzerschrank!' Es gibt keinen Grund, Benedikt zu schützen oder ihm eine Sonderrolle zu geben, nur, weil er Papst geworden ist."

Christian Pfeiffer: "Gegen die Gewalt – Warum Liebe und Gerechtigkeit unsere besten Waffen sind" (ISBN: 978-3-466-37237-9), Random House, 2019, 304 Seiten, 22 Euro

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