Kommentar

Warum Feminismus uns alle angeht und wichtiger denn je ist

Frauen sind gesellschaftlich noch immer gegenüber Männern benachteiligt. Deshalb ist Feminismus nach wie vor wichtig und keinesfalls ein Auslaufmodell, wie oft behauptet wird. Ein Kommentar zum Internationalen Frauentag am 8. März von Constantin Huber.

Um das schwächste, aber gebetsmühlenartig bei diesem Thema stets vorgebrachte Gegenargument gleich zu Beginn zu entkräften: nein, es geht in den folgenden Zeilen nicht darum, die Zahlen von Diskriminierung zwischen den Geschlechtern anzugleichen. Weder sollen genauso viele Frauen im Gefängnis sitzen wie Männer noch sollen Männer genauso häufig sexuell belästigt werden wie Frauen. Ziel des Feminismus – und auch des Textes hier – ist es, real existierende Missstände zu benennen und nach Strategien zu suchen, um dagegen vorzugehen. In praktisch jedem Land auf der Welt sind es vor allem die Frauen, die systematisch und gezielt oder aber systematisch und unabsichtlich unterdrückt werden. Dass es auch sporadische (unsystematische) gezielte oder unabsichtliche Diskriminierungen von Männern und Frauen gibt, ändert an diesem Umstand nichts.

Da dies auch für Deutschland im Jahr 2020 gilt, lohnt sich ein etwas genauerer Blick hinter die Kulissen. Doch zunächst noch etwas Grundlegendes, da Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr und Jahrzehnt für Jahrzehnt die immergleiche Floskel hochgehalten wird, wonach Gleichberechtigung doch längst erreicht sei und man – beziehungsweise vor allem Frau – sich wegen der angeblichen "paar Kleinigkeiten", die jetzt noch offen seien, nicht so haben solle. Dem ist nicht so. Folgendes Beispiel kann dies veranschaulichen: im Jahr 1997 war die Relativierung von Diskriminierung gegenüber Frauen unter weiten Teilen der Gesellschaft Konsens. Offensichtliche Missstände wurden nicht als solche anerkannt. Dass etwa ein Ehemann bis 1997 vor dem Gesetz kein Vergewaltiger sein konnte, sondern er sich bei der Vergewaltigung der Ehefrau lediglich wegen Nötigung strafbar machen konnte, galt bis dahin gemeinhin als völlig akzeptabel. Allein die Idee, das zu ändern, fanden viele Parlamentarier lächerlich.

Analog dazu sind auch die heutigen eklatanten Missstände, wenngleich sie gerne schön- oder kleingeredet werden, alles andere als zu vernachlässigende Nichtigkeiten. Es ist heute genauso wichtig, die vorhandenen Missstände zu erkennen, sie zu benennen und anzugehen wie die Straffreiheit der Vergewaltigung in der Ehe damals. Und dafür muss eine Menge Überzeugungs- und Aufklärungsarbeit geleistet werden. Es sei denn natürlich, man möchte aus Sicht der Menschen in 20 Jahren auf der reaktionären Seite stehen. Denn wenn wir heutzutage berechtigterweise Seehofer, Merz und Co. als reaktionär einstufen, da sie 1997 gegen den besagten Straftatbestand im Bundestag votierten, dann müssen wir so viel Reflexionsvermögen aufbringen, um uns einzugestehen, dass es auch heute noch eine ganze Reihe von Missständen gibt und wir als reaktionär gelten werden, wenn wir nicht aktiv gegen diese aufbegehren.

An folgenden Tatsachen gibt es, Stand heute, nichts zu rütteln:

Frauen verdienen im Beruf weniger als Männer – und das bei gleicher Arbeitszeit und -leistung

Frauen sind signifikant seltener in Entscheidungs- und Führungspositionen

Frauen sind viel häufiger als Männer ungewollt nur in Teilzeit beruflich tätig

Die sogenannten "Frauenberufe" werden schlechter bezahlt und genießen niedrigeres Ansehen als die sogenannten "Männerberufe", die ein ähnliches Bildungsniveau erfordern

Da Frauen bei einer Schwangerschaft längere Zeit beruflich nicht tätig sein können, werden Männer bevorzugt eingestellt

Aufgrund einer Schwangerschaft (einhergehend mit Arbeitspause) hat eine Frau schlechtere Aufstiegschancen

Trotz Diskriminierungsverbot können Arbeitgeber Angestellte loswerden, nur, weil diese schwanger werden

Frauen haben im Schnitt eine deutlich geringere Rente als Männer

Vermögen ist zwischen Männern und Frauen enorm ungleich verteilt

Das Steuermodell des Ehegattensplittings fördert die Altersarmut von Frauen und setzt falsche Anreize

Traditionelle Familien- und Rollenbilder der Gesellschaft tragen dazu bei, dass Frauen nicht dieselben Risiken wie Männer eingehen können

Frauen sind häufiger einer Doppel- oder Dreifachbelastung (Familienarbeit, Berufs- & Pflegetätigkeit) ausgesetzt

Noch immer leisten vor allem Frauen Erziehungsarbeit in der Familie

Alleinerziehende sind häufiger Frauen und häufiger von Armut bedroht

Die Hälfte der Männer bezahlt keinen Unterhalt

Zwar verbessert der sogenannte Unterhaltsvorschuss die Situation der Frauen ein klein wenig, das aktuelle Steuerrecht treibt aber viele Alleinerziehende oder geschiedene Frauen systematisch in die Armut

Frauen können bei Abtreibungen aufgrund der aktuellen Gesetzeslage nur schwerlich Informationen einholen, es gibt kaum durchführende Praxen und die Kosten sind so hoch, dass sie häufig in die Entscheidungsfindung einbezogen werden müssen

Vor allem Frauen sind Opfer sexueller Belästigung und häuslicher Gewalt

Jeden dritten Tag wird in Deutschland eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet

Für viele Frauen ist das eigene Zuhause ein gefährlicher Ort, an dem Angst herrscht

Frauen leben im Alltag unsicherer, weil zum Beispiel üblicherweise männliche Crashtest-Dummys verwendet werden (die Wahrscheinlichkeit, bei einem Unfall schwer verletzt zu werden, ist für Frauen 47 Prozent höher)

Medizin wird meist an Männern oder männlichen Mäusen getestet – Frauen erhalten dadurch mit einer deutlich höheren Wahrscheinlichkeit falsch dosierte Präparate

Grenzwerte für Chemikalien sind für Frauen oftmals zu hoch, da der Mann als Maßstab genommen wird

Sicherheits- und Schutzkleidung für Frauen ist üblicherweise zu groß

Da immer mehr Entscheidungen zum Beispiel in der Medizin oder bei einer Jobbewerbung von Algorithmen getroffen werden und diese mit den überwiegend männlichen Daten ausstaffiert werden, festigen sich im Zuge der Digitalisierung einige der Voreingenommenheiten und Benachteiligungen gegenüber Frauen

Frauen erfahren im Alltag, vor allem aber im Beruf, sehr häufig Sexismus

Der häufig vorgebrachte Einwand, wonach es in anderen Ländern düsterer aussieht als hierzulande, ist sicher korrekt. Aber dieser Whataboutism darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch in Deutschland noch einiges zu tun gibt. Andernfalls könnten politische Bestrebungen wie die Trennung von Staat und Religion, die Stärkung der Rechte von Arbeitnehmenden oder aber die ausgedehnte finanzielle Unterstützung der Wissenschaftsbetriebe ebenfalls eingestellt werden. Schlicht aus dem Grund, weil es in anderen Ländern viel übler aussieht.

Doch das wäre hochgradig unethisch. Wenn etwas grundlegend falsch läuft, dann ist es richtig, dies anzuprangern und dagegen vorzugehen. Und zwar völlig gleich, in welchem Land dies geschieht. Wenn öffentlich das Nichtstun als sinnvoller dargestellt wird als das Handeln in Richtung Gleichberechtigung, dann nimmt diese Haltung nur all jenen den Wind aus den Segeln, die sich für eine notwendige Sache einsetzen. Ob man selbst daran aktiv partizipieren möchte, muss jedem selbst überlassen sein. Aber in einer Welt, in der man sich spielend leicht die obigen Informationen einholen kann, muss das Mindestmaß an Anstand eingefordert werden können, wonach Menschen, die sich nicht aktiv gegen die Diskriminierung von Frauen einsetzen möchten, zumindest nicht all jenen Steine in den Weg legen, die genau das tun.

Die Frage der Gleichberechtigung von Mann und Frau ist außerdem keine rein juristische, wie fälschlicherweise gerne angenommen. Sie muss unter anderem auch sozialwissenschaftlich, politikwissenschaftlich, anthropologisch sowie geschichtlich erörtert werden. Erst auf dieser Grundlage kann gesellschaftlich und politisch eine Annäherung an das gesteckte Ziel stattfinden. Dabei kann es durchaus notwendig werden, dass Gesetze angepasst, eine bestimmte Sensibilisierung erreicht oder aber ein gesamtgesellschaftliches Umdenken mittels einer auf Fakten basierenden Debatte angestrebt wird.

Aber selbst ohne Debatte kann hier bereits vieles getan werden, indem sich jeder ganz individuell so oft wie möglich selbst reflektiert und gelegentlich auch den unangenehmen Fragen stellt wie: "Kann mein Verhalten gegenüber der weiblichen Kollegin von dieser womöglich als sexistisch aufgefasst werden?" Dieser Frage muss man sich im Zweifelsfall auch stellen, wenn kein Sexismus je intendiert war. Oder aber einer Frage wie: "Ist es gerechtfertigt, dass meine Frau beruflich zurücksteckt, während ich ohne Abstriche weiterarbeite?" Dieser Frage muss man sich auch stellen, wenn man in seinem Beruf mehr verdienen sollte. Hinzu kommen Fragen, die in etwa in diese Richtung gehen: "Warum treten wir nicht alle deutlich intensiver für Feminismus ein, obwohl doch offensichtlich ist, dass dieser allen Menschen zugutekommt?" Dieser Frage muss man sich auch stellen, wenn man glücklicherweise im direkten Umfeld niemanden hat, der von Diskriminierung betroffen ist.

Es liegt an uns allen, den vielen eklatanten Missständen offen und ehrlich in die Augen zu blicken.

Es liegt an uns allen, diese so differenziert wie nötig und in Anbetracht ihrer jeweiligen Konsequenzen bei nicht vorgenommener Beseitigung anzugehen.

Dafür lohnt es sich, sich für den Feminismus stark zu machen.

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