Der Langzeitfolgen-Hoax und ein Fußballstar

Die Ärztin und Kolumnistin Natalie Grams-Nobmann hat Verständnis für kritisches Hinterfragen beim Impfen. Sie selbst grübelt aber, warum Laien sich nicht auf Expertinnen und Experten mit Fachwissen verlassen.

Niemandem ist vorzuwerfen, zu komplexen Fragen nicht auf dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis zu sein. Niemandem sind gesunde Zweifel vorzuwerfen oder kritisches Hinterfragen wichtiger Entscheidungen – zum Beispiel für oder gegen die Impfung. Aber: Es wird zum Problem, wenn man der Uninformiertheit nicht mit Fachwissen entgegentritt, sondern beim "kritischen" Hinterfragen unkritisch Nichtexperten und allgemeinem Geraune vertraut.

Und damit zu den "Langzeitschäden bei Impfungen", die gerade in hoher Frequenz herumposaunt werden. Ich wundere mich da schon: Hatten wir alle darüber nicht schon vor langer Zeit ausführlich gesprochen? War da nicht schon immer und immer wieder erklärt worden, dass Langzeitfolgen, die erst Jahre später auftreten, bei bisherigen Impfungen nicht bekannt und bei den Covid-Impfstoffen auch nicht zu erwarten sind? War nicht schon abgehakt, dass die Wissenschaft Langzeitfolgen – den Begriff, der hier so vielen Menschen Sorgen macht – ganz anders erklärt als der "Hoax", den sich die Szene der Impfzweifelnden regelrecht zusammengestrickt hat?

Dieser Hoax ist auf fruchtbaren Boden gefallen; wohl auch, weil viele Bedenken gegen die angeblich zu schnelle Impfstoffentwicklung gegen Covid-19 laut wurden. Und nun ist er offenbar unausrottbar.

Gut, also noch einmal: Nein, die Narkolepsiefälle nach Pandemrix-Impfungen sind kein Beleg für Langzeitfolgen – die Fälle traten zeitnah auf, meist binnen Tagen bis Wochen nach den Impfungen. Nur wurden sie erst später damit in Verbindung gebracht – eben weil sie selten waren. Dasselbe beim Impfstoff gegen das tropische Denguefieber (ja, auch der sollte Langzeitfolgen von Impfungen "beweisen"). Dort sind wirklich unerwünschte Wirkungen beobachtet worden, deren Ursache man heute gut erklären kann: Der Impfstoff kann wie eine zweite natürliche Infektion wirken, die häufig stärker ausfällt als die erste; die Impfung scheint dann eine krankheitserregende Wirkung zu haben. Allerdings geschieht das sehr schnell nach dem Pieks. Bloß belegen konnte man den Zusammenhang erst viel später. Warum? Weil auch diese Impfnebenwirkung selten war …

Der Knackpunkt ist: Impfnebenwirkungen sind manchmal so selten, dass sie in den Zulassungsstudien schlicht nicht erkannt werden können. Doch sie werden nicht deshalb zu "Langzeitfolgen", weil sie erst später auffallen, also zum Beispiel in der Nachbeobachtung während der Anwendung, die wir auch als Phase 4 des Zulassungsverfahrens bezeichnen. Es spricht für die bewundernswerte Effektivität der Nachbeobachtungssysteme, dass auch die seltenen Nebenwirkungen überhaupt auffallen – und für die Sorgfalt, mit der die Effekte der Impfung nachhaltig im Blick behalten werden. All das wurde und wird vielfach erklärt, zum Beispiel von Carsten Watzl, dem Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Immunologie: "Wenn Nebenwirkungen auftreten, so beginnen diese üblicherweise innerhalb von maximal acht Wochen nach der Impfung. Also in der Phase, in der die Infektion am Abklingen ist. Danach ist der Impfstoff abgebaut und kann damit auch nichts mehr im Körper bewirken."

Ist so wie bei der Homöopathie: Wo nichts ist, da kann nichts wirken.

Und warum lässt man Zulassungsstudien dann nicht einfach länger laufen? Man könnte doch auch zehn Jahre lang vor einer Zulassung beobachten, wie manche Impfzweifelnden es anregen. Man könnte, aber man sollte nicht: weil Corona ist, weil eine Pandemie läuft und weil es jetzt enorm viel riskanter wäre, wenn wir die Impfstoffe nicht hätten!

Ein merkwürdig hartnäckiges Missverständnis

Die Sache mit den Langzeitfolgen ist also ein Missverständnis. So etwas kann ja vorkommen. Nur macht mir wirklich Kopfzerbrechen, wie lange sich die Diskussion darüber hält und wie sie immer wieder nach ganz oben gespült wird. Aktuell wird etwa eine Aussage von Fußballstar Joshua Kimmich breit aus allen denkbaren Richtungen kommentiert: Er habe sich nicht impfen lassen, sagte Kimmich, weil er persönlich Bedenken wegen fehlender Langzeitstudien habe. Kimmich macht sich offensichtlich Sorgen über etwas, was der Impfskeptizismus-Hoax unbewiesen in den Raum gestellt hat. Wie viele andere möchte Kimmich kritisch sein, ist am Ende jedoch im Gegenteil allzu unkritisch und geht dem Hoax auf den Leim.

Schlimm finde ich bei den stets von Neuem anschwellenden Debatten dieses mitschwingende allgemeine Raunen: "Es könnte ja aber doch was passieren." Woher ahnt man das? Es gibt ja keine nachgewiesenen Langzeitfolgen. Es gibt bisher schlicht erfundene Annahmen. Das Raunen äußert auch kein konkretes Bedenken, das sich ausräumen lassen würde. Es drückt aus, dass "wer nichts weiß, alles glauben muss", wie die Science Busters zu sagen pflegen.

Damit zurück zum Anfang: Nichtwissen ist letztlich niemandem zum Vorwurf zu machen. Erst recht nicht mit abwertendem Unterton und einer Andeutung von unterstellter Ignoranz oder gar Dummheit. Hilfreich wäre eher zu klären, wie man den Menschen mehr und besseres Wissen vermitteln kann. Immerhin besteht die Gefahr, dass Nichtwissen durch Halb- oder Falschwissen ersetzt wird, wenn Impfzweifler Rhetorik und regelrechter Propaganda mehr glauben als der mittlerweile einfach abrufbaren Einschätzung echter Experten. Und nein: Es sollte längst kein Problem mehr sein, echte von falschen Experten zu unterscheiden.

Wissen statt Raunen ist auch angebracht, wenn es um Substanzielleres geht als um Fantasiegebilde wie den Langzeitschäden-Hoax. Bei der Myokarditis, der Herzmuskelentzündung zum Beispiel: Wir wissen nun, dass sie als seltene Nebenwirkung nach der Impfung auftreten kann – innerhalb von Tagen bis Wochen. Meist ist der Verlauf übrigens milde und die Herzmuskelentzündung heilt folgenlos aus. Aber klar: Manchmal ist das anders; so kann sie nach Jahren beispielsweise eine eingeschränkte Pumpfunktion des Herzens nach sich ziehen, eine Herzinsuffizienz. Dies ist jedoch alles andere als eine "plötzliche, unerklärliche Spätfolge aus dem Nichts". Darüber kann man reden, darüber kann man aufklären – Expertise ist ausreichend verfügbar.

Man kann ebenso darüber reden, dass solche Herzmuskelentzündungen viel häufiger nach einer Covid-Infektion auftreten, wie auch generell nach einem viralen Infekt. Schon unsere Eltern haben uns (hoffentlich) beigebracht, nach einer Erkältung erst mal ein paar Tage keinen Sport zu machen – genau deswegen. Vor allem Krankheitserreger lösen "Spätfolgen" aus; wir kennen so manche, die Schäden auslösen können, oft sogar irreversible, die sich lebenslang auswirken. Nach dem, was wir wissen, ist das Virus Sars-CoV-2 in dieser Hinsicht womöglich besonders problematisch. Aber Achtung: das Virus, nicht die Impfung!

Denken Sie jetzt nicht an einen …

Was nicht passieren wird, ist, dass einem fünf Jahre nach der Impfung plötzlich ein dritter Arm wächst. Spätestens seit Kimmich steht nun aber genau so ein rosa Elefant im Raum. Der Elefant heißt "Irgendetwas könnte passieren". Und wie sollte man jetzt nicht mehr daran denken? Geholfen ist damit niemandem, außer vielleicht missionarischen Impfverweigerern. Am Ende steht einfach nur die Abnahme der Impfbereitschaft.

Also: Bitte, bitte halten Sie sich gerade als Laie an Expertinnen und Experten mit dem nötigen Fach- und Hintergrundwissen: Die können darüber aufklären, ob es gute Gründe gibt, eine Impfentscheidung aufzuschieben. Gute Gründe dafür gibt es allerdings kaum – und auf den Hoax der Langzeitfolgen hereinzufallen ist auf keinen Fall einer. Also bitte: nichts auf Geraune geben, echter Expertise statt gefühltem Wissen vertrauen, Termin vereinbaren, impfen lassen! Ach, und: wenn wir schon dabei sind, bitte auch die Influenza-Schutzimpfung nicht vergessen!

Übernahme mit freundlicher Genehmigung von spektrum.de.

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