Interview

Hochbegabung und Inklusion: "Jedes Kind braucht mindestens einen Erwachsenen, der an es glaubt"

Hochbegabung, Kreativität und Intelligenz – das sind die Forschungsschwerpunkte der Psychologieprofessorin Tanja Gabriele Baudson. Dazu wird sie auch auf dem Symposium Kortizes 2022, das am kommenden Wochenende, 7. bis 9. Oktober, in Nürnberg stattfindet, sprechen. Im Vorfeld unterhielt sich Inge Hüsgen mit ihr über die Situation von Hochbegabten in Deutschland sowie die Rolle der Wissenschaftskommunikation in der Gesellschaft.

hpd: Hochbegabung, was ist das überhaupt? Mit welchen Methoden werden entsprechende Leistungen und Potenziale am sinnvollsten ermittelt und beschrieben?

Tanja Gabriele Baudson: Hochbegabung lässt sich beschreiben als ein Potenzial zu herausragender Leistung, das sich unter günstigen Umständen entwickeln kann. Letzteres betrifft sowohl förderliche Persönlichkeitsmerkmale als auch günstige Umweltmerkmale. Es gibt verschiedene Bereiche, in denen sich eine solche hohe Begabung zeigen kann. Die intellektuelle Begabung, erfasst durch den IQ, ist vermutlich das bekannteste Maß. Intelligenz ist keineswegs der einzige Bereich, in dem Menschen herausragend sein können; aber ein vergleichbar gutes Maß fehlt in den anderen Domänen bislang noch.

Je älter ein Mensch ist, desto mehr erwartet man, dass er (oder sie) auch etwas aus seinen Potenzialen gemacht hat. Das ist aber keineswegs ein Selbstläufer – ungünstige Umstände können einem so manchen Weg versperren. Manche erkennen die eigene Begabung erst spät; aber auch, wenn die Gesellschaft einem älteren Menschen nicht mehr dieselbe Entwicklungsfähigkeit zugesteht wie einem jüngeren, heißt das nicht, dass der Zug damit abgefahren wäre.

Wie lässt sich die Situation von Kindern und Jugendlichen mit Hochbegabung im deutschen Schul- und Ausbildungssystem beschreiben und inwieweit spielen soziale Unterschiede der Herkunftsfamilien hierbei eine Rolle?

Das Thema wird präsenter, aber noch immer gibt es so viele Themen, die scheinbar wichtiger sind, sodass die Begabtenförderung oft das erste ist, was hinten über fällt. Hochbegabung gilt eher als "Luxusproblem". Das hat sich auch bei Corona gezeigt – natürlich müssen Leistungsdefizite nun aufgearbeitet werden, aber was den Hochbegabten durch den Wegfall der üblichen Förderung entgangen ist – an intellektueller Stimulation wie an sozialen Kontakten –, bringt ihnen auch keiner mehr zurück. Diejenigen, die zu Hause schon annähernd optimale Bedingungen vorfinden, haben weniger unter dem Homeschooling gelitten, teilweise sogar profitiert. Schlimm ist es für diejenigen, für die die institutionelle Förderung alternativlos ist, weil die Eltern das nicht ohne weiteres kompensieren können.

"Grundsätzlich würde ich mir wünschen, dass die Vielfalt der Perspektiven besser genutzt würde – dass Lehrkräfte, Eltern, Bekanntenkreis, Vereine etc. alle am selben Strang ziehen und versuchen, bei jedem Kind das zu finden, worin es richtig gut sein kann."

Wie beurteilen Sie die Rolle von Lehrerinnen und Lehrern in dieser Situation?

Auch in der Aus- und Weiterbildung der Lehrkräfte spielt Hochbegabung nach wie vor eine eher untergeordnete Rolle. Lehrkräfte sind unterschiedlich gut darin, begabte Kinder zu finden – und in Deutschland haben wir im Gegensatz zu anderen Ländern keine gut etablierten flächendeckenden Testungen, die dieses Manko kompensieren könnten. Und bei bestimmten Gruppen erwarten Lehrkräfte eine Hochbegabung eher als bei anderen, auch wenn Hochbegabung in allen sozialen Schichten, allen Ethnien, allen Geschlechtern vorkommt. Vermutlich sehen Lehrkräfte auch das Kapital – platt gesagt, wer keine Nachhilfe bezahlen kann, muss halt schlauer sein.

Verbände und Initiativen von und für Hochbegabte monieren häufig eine zu geringe Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Hochbegabung. Wie verträgt sich dies mit dem gesellschaftlichen Ziel der Inklusion?

Das verträgt sich sogar sehr gut! Die Idee von Inklusion ist ja, dass jedes Kind die Förderung bekommt, die es braucht. Es geht also um individuelle Bedürfnisse, auf die individuell eingegangen werden muss. Ob das Bedürfnis auf eine Hochbegabung, eine Lese-Rechtschreib-Schwäche oder eine Körperbehinderung zurückzuführen ist, ist dabei eigentlich sekundär – es geht in allen Fällen darum, zu erkennen, was das Kind aktuell kann und wie man es am besten unterstützen kann, damit es das Beste aus seinen Potenzialen machen kann.

Wie müsste ein förderungsgerechtes Bildungssystem beschaffen sein, das gesellschftliche Ungerechtigkeiten nicht reproduziert, sondern ausgleicht?

Prof. Dr. Tanja Gabriele Baudson verantwortet an der Vinzenz Pallotti University das Lehr- und Forschungsgebiet der Differentiellen Psychologie, Persönlichkeitspsychologie und Psychologischen Diagnostik. 2017 initiierte und koordinierte sie gemeinsam mit Claus Martin den bundesweiten "March for Science" in Deutschland. Für ihr Engagement für die Wissenschaftsfreiheit zeichnete sie der Deutsche Hochschulverband als Hochschullehrerin des Jahres 2018 aus. Ehrenamtlich engagiert sich Tanja Gabriele Baudson u. a. als Gründungsbeirätin des Hans-Albert-Instituts und als Vorsitzende des Hochbegabtenvereins Mensa in Deutschland.

Ich glaube, man darf nicht naiv annehmen, dass die im aktuellen System Privilegierteren sich eine solche Agenda selbstlos auf die Fahnen schreiben würden. Gleich und gleich gesellt sich gern, das zeigt sich in Netzwerken, Einstellungen, Beförderungen, Stipendien und vielem mehr. Heterogenität kann dagegen sehr anstrengend sein. Ein gerechtes Bildungssystem sähe zum einen so aus, dass das Bild von "Begabung" und "Hochbegabung" vielfältiger wird. Man muss aufgeschlossen dafür sein, dass außergewöhnliche Begabungen überall auftauchen können; und je weniger eingeschränkt unser Bild von (Hoch-)Begabung und (Hoch-)Begabten ist, desto eher können wir sie auch finden. Lehrkräfte haben leider (wie auch der Rest der deutschen Bevölkerung) ein sehr stereotypes Bild von Hochbegabten – sie halten sie zu Unrecht für sozial problematisch, emotional instabil und schlecht angepasst. Wenn man sie bittet, die Intelligenz von Kindern einzuschätzen, verzerrt der sozioökonomische Status der Eltern das Bild massiv.

Das Erkennen ist aber nur der erste Schritt. Ebenso wichtig ist, dass Lehrkräfte darauf vorbereitet sind, Begabungen in ihrer Entfaltung zu unterstützen. Dazu braucht es einerseits Techniken, andererseits aber auch Haltung – etwa die persönliche Reife und Gelassenheit, um anzuerkennen, dass ein hochbegabtes Kind unter Umständen etwas besser kann als man selbst, ohne dass das mit der eigenen Person und dem eigenen Wert auch nur das Geringste zu tun hätte. Der soziale Vergleich ist die Quelle vielen Übels.

Grundsätzlich würde ich mir wünschen, dass die Vielfalt der Perspektiven besser genutzt würde – dass Lehrkräfte, Eltern, Bekanntenkreis, Vereine etc. alle am selben Strang ziehen und versuchen, bei jedem Kind das zu finden, worin es richtig gut sein kann. Es geht beim Erkennen von Begabungen nicht darum, dass einer recht hat, sondern darum, möglichst kein Potenzial zu übersehen – auch, wenn zunächst nur einer das wahrnimmt. Jedes Kind braucht mindestens einen Erwachsenen, der an es glaubt.

Sie sind Vorsitzende des gemeinnützigen Vereins March for Science in Deutschland, der sich zu Beginn der Trump-Ära als Gegenbewegung zu postfaktischen Argumentationsmustern formiert hat und für den Wert von Forschung und Wissenschaft im gesellschaftlichen Diskurs eintritt. Wie beurteilen Sie die Rolle von Stimmen aus der Wissenschaft bei politischen Entscheidungen?

Ich glaube in der Tat, dass sich da in den letzten Jahren einiges getan hat – zumindest, was die Bedeutung von Wissenschaft und ihrer Kommunikation für die Gesellschaft angeht. Da haben mittlerweile alle größeren Wissenschaftsorganisationen, die den "March for Science" damals ja auch unterstützt hatten, nachgezogen. Klar ist: Die Freiheit der Wissenschaft ist keine Selbstverständlichkeit, sondern ein großes Privileg – und mit dieser Freiheit geht auch eine große Verantwortung einher. Es freut mich sehr zu sehen, dass so viele Forscherinnen und Forscher mittlerweile eine aktivere Rolle in der Gesellschaft spielen.

Für gefährlich halte ich das Phänomen des False Balancing, wodurch in den Medien der Eindruck entsteht, dass eine Nischenmeinung ebenso relevant sei wie die Ansicht, die die Mehrheit der Forschenden teilt. Dass auch manche Politiker*innen dadurch meinen, sich unter dem Deckmäntelchen von "Wissenschaftlichkeit" nach Belieben die Rosinen herauspicken zu können, die zu ihrer Argumentationslinie passen, ist unverantwortlich. Hier bräuchte es noch viel mehr Wissenschaftsverständnis in der Bevölkerung und natürlich kritische Einordnung von Befunden.

"Die Freiheit der Wissenschaft ist keine Selbstverständlichkeit, sondern ein großes Privileg – und mit dieser Freiheit geht auch eine große Verantwortung einher."

Ein interessanter Aspekt hierbei ist, inwieweit Unterschiede zwischen einzelnen Wissenschaften feststellbar sind, etwa bei der Bereitschaft, bei einem bestimmten Problem (wie der Pandemie) den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Gehör zu schenken, bei einem anderen (beispielsweise der Klimakrise) jedoch weniger. Gibt es Vermutungen, wie solche Unterschiede zustandekommen?

Meine Vermutung wäre, dass die Pandemie für uns alle viel stärker spürbar ist als der Klimawandel und somit akut relevant ist. Pandemiebedingte Beschränkungen treffen jeden, und da Maske tragen, Kontaktbeschränkungen etc. wohl den wenigsten Menschen Freude machen, erfordert das eine ganz andere Art der Rechtfertigung. Vermutlich gibt es inzwischen kaum noch Menschen, die nicht zumindest jemanden kennen, der Corona hatte – auch dadurch hat man einen ganz anderen Bezug zu dem Problem. Den Klimawandel kann man sich trotz zahlreicher Anzeichen viel leichter schönreden. Wir Menschen sind extrem schlecht darin, langfristig zu denken – das Problem Klimawandel begleitet uns schon so lange, und bislang ist noch nicht so viel passiert, was uns in unserem westeuropäischen Komfort ernsthaft einschränken würde. Dass sich das sehr schnell ändern kann, wenn mehr und mehr Kipppunkte erreicht werden, verdrängen wir leider nur allzu gern.

Und welche Ratschläge haben Sie für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die die Erkenntnisse ihres Faches in der Politik berücksichtigt sehen wollen?

Was die Kommunikation betrifft: kurze Sätze. Formulieren Sie auf den Punkt. Und bleiben Sie bei den Fakten, treffen Sie keine Schlussfolgerungen, die nicht durch die Daten gedeckt sind. Man muss sich klar machen, dass Wissenschaft und Politik aus gutem Grund zwei separate Sphären sind. Wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn ist das eine – das sind die Fakten, auf denen gute politische Entscheidungen basieren sollten. Die Entscheidung selbst wird aber in der Politik getroffen, nicht in der Wissenschaft. Ich glaube, wir bräuchten viel mehr Forscherinnen und Forscher, die sich politisch engagieren und auf dem wissenschaftlichen wie dem politischen Parkett tanzen können.

Symposium Kortizes 2022: Gehirne zwischen Genie und Wahnsinn – Begabung und Persönlichkeit aus Sicht der Neurowissenschaft, 7. bis 9. Oktober 2022, Germanisches Nationalmuseum, Kartäusergasse 1, 90402 Nürnberg. Tickets gibt es hier.

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