Jahresrückblick

2022: Das Jahr, in dem der Krieg nach Europa zurückkehrte

Nach zwei Jahren Pandemie kamen nun noch der Krieg in der Ukraine und eine massive Inflation hinzu. Schwierige Zeiten, während derer andere Themen leicht aus dem Blick geraten. Was die Leserinnen und Leser des hpd 2022 besonders umtrieb, welche der insgesamt 783 Artikel ­– verfasst von 127 Autor:innen – sie besonders oft lasen, darauf wollen wir zu Beginn des neuen Jahres zurückblicken.

Januar

Zwei der meistgelesenen Artikel im ersten Jahresmonat erschienen am selben Tag, dem 10. Januar: Zum einen war dies ein Text von Jürgen Roth, der bereits da von einer Zeitenwende sprach – allerdings bezogen auf die erstmalig eintretende Bevölkerungsminderheit von Angehörigen der beiden christlichen Großkirchen. Erst gut einen Monat später sollte dem Wort Zeitenwende eine Bedeutung zuteilwerden, die die grundlegende Veränderung der geopolitischen Weltlage zum Ausdruck brachte, welche das Jahr in ungeahntem Ausmaß prägen sollte.

Zum anderen untersuchte Religionsfrei in Bremen die religiös-esoterische "Christengemeinschaft" als weltanschauliche Basis der Querdenkerszene.

Mit über 19.000 Aufrufen das größte Leseinteresse rief ein "Blick in den Abgrund" hervor: Alice Olga Meyer hatte sich für den hpd in den "Kaninchenbau des Wahnsinns" in Telegram-Chatgruppen vorgewagt und unter Zuhilfenahme zahlreicher Zitate einiges Abstruses zusammengetragen, über das man sich dort austauscht. Erträglicher wurde es durch eine Prise Ironie.

Februar

Gleich zu Beginn informierten sich rund 16.500 Leser über ein Urteil des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen, nach dem Schwerkranke kein Anrecht auf das Suizidmedikament Natrium-Pentobarbital haben. Gita Neumann berichtete darüber.

Infolge des sogenannten Münchener Missbrauchsgutachtens geriet der jüngst verstorbene Ex-Papst Joseph Ratzinger einmal mehr in die Kritik. Ob der zurückgetretene "stellvertreter Gottes" gelogen habe, damit beschäftigte sich Colin Goldner in einem bissigen Text – der nach aktuellen Maßstäben wohl klagewürdig wäre.

Das Trio der am häufigsten angeklickten Artikel im Februar komplettierte Hella Camargo; dabei ging es um die religiös begründete Ablehnung der Corona-Impfung in den USA.

März

Das Jahr 2022 war auch das der umstrittenen Fußball-Weltmeisterschaft in Katar. Zu den zahlreichen Negativmeldungen rund um das Großereignis zählte auch die von Joscha Wölbert aufgeschriebene über eine dort arbeitende Mexikanerin, die nach der Anzeige einer Vergewaltigung selbst als Angeklagte dastand – wegen Unzucht außerhalb der Ehe. Sie begab sich nach fast zehn Jahren im Nahen Osten wieder in ihr Heimatland, um einer möglichen Verurteilung zu Peitschenhieben und Gefängnis zu entgehen.

Dann war da noch ein "Erster Blick in ein sterbendes menschliches Gehirn", der Forschern gelang. Es scheint kurz vor dem Tod Erinnerungsereignisse abzurufen und intensive Erlebnisse zu produzieren, gab die stellvertretende Chefredakteurin des hpd Daniela Wakonigg die Ergebnisse wieder.

Mehr als 17.000 Klicks und damit der monatliche Artikelspitzenwert entfielen auf einen Beitrag von Constantin Huber, der sich rund einen Monat nach Kriegsbeginn mit dem russischen Angriff auf die Ukraine auseinandersetzte. Der Autor plädierte darin für eine klare Haltung und besonnenes Handeln.

April

Viel Aufmerksamkeit zog wieder der hpd-Aprilscherz auf sich, der diesmal in Kooperation mit säkularen Verbänden aus Österreich und der dortigen Kirche des Fliegenden Spaghettimonsters stattfand. Die Meldung von Daniela Wakonigg zum 1. April lautete, dass das James-Webb-Weltraumteleskop Russell's Teekanne entdeckt habe – was unter Atheisten für Entsetzen sorge.

Die Atheisten Österreich waren es auch, die wenig später eine Ehrenurkunde an Rainer Maria Woelki vergaben – für seine Leistungen für den Atheismus. Der Kölner Kardinal leiste durch seinen Umgang mit den Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche einen nicht unwesentlichen Beitrag zu anhaltend hohen Kirchenaustrittszahlen, erläuterte Andreas Gradert.

Den Jahresrekord konnte mit knapp 54.000 Aufrufen erneut ein Waldorf-Thema für sich verbuchen: Andreas Lichte schrieb über ein aktuelles Beispiel der anthroposophischen Tradition des Leugnens von Rudolf Steiners Rassismus.

Mai

Das "Kölner Beschneidungsurteil" sei richtig gewesen, stellte der ehemalige Vorsitzende Richter des 2. Strafsenats des Bundesgerichtshofs Prof. Dr. Thomas Fischer im Interview mit Daniela Wakonigg anlässlich des zehnten Jahrestages der Entscheidung klar. Das Urteil, welches die medizinisch nicht indizierte Vorhautamputation als Körperverletzung einstufte, löste 2012 eine Debatte aus, welche fatalerweise im "Beschneidungserlaubnisgesetz" Paragraph 1631d BGB mündete. Der Jahrestag der wegweisenden Kölner Entscheidung markiert seitdem den jährlich begangenen Tag der genitalen Selbstbestimmung.

Inge Hüsgens Bericht zu einer Studie, die sich dem Zusammenhang von Religion und Verschwörungsglauben widmete, konnte die meisten Leser:innen für sich gewinnen, fast 12.000 an der Zahl.

In diesem Monat stellte sich außerdem der Zentralrat der Konfessionsfreien offiziell vor. Seine politische Agenda, die "Säkulare Ampel", veröffentlichte der hpd im Wortlaut, und sie sollte auf ähnlich großes Interesse stoßen.

Juni

Ferda Atamans Ernennung zur Bundesbeauftragten für Antidiskriminierung sorgte für Diskussionen. Die Migrantinnen für Säkularität und Selbstbestimmung sprachen sich in einem Offenen Brief gegen ihre Einsetzung aus. Beinahe 10.000 Mal aufgerufen, sollte dieser zu Beginn des Sommers das größte Lesepublikum erreichen.

Nur einen Tag später erschien ein weiterer gern gelesener Beitrag von Daniela Wakonigg: Rüdiger Weida, langjähriger Vorsitzender der Kirche des Fliegenden Spaghettimonsters Deutschland will vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erstreiten, dass er auf seinem Personalausweisbild eine pastafarianische Kopfbedeckung tragen darf – analog zu dem, was Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften zugestanden wird.

Ein weiterer Text der Autorin griff zur offiziellen Veröffentlichung der Kirchenaustrittszahlen, die immer im Sommer erfolgt, das auf, was schon zu Jahresbeginn für 2022 prognostiziert worden war und nun schwarz auf weiß vorlag: Katholiken und Protestanten sind erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik nicht mehr in der Mehrheit, während der Anteil der Konfessionsfreien auf nun 42 Prozent angestiegen ist.

Juli

Mittlerweile ist er freigesprochen – doch zunächst wurde Abbas M. auf Grundlage des noch immer in Deutschland bestehenden "Gotteslästerungsparagraphen" 166 StGB verurteilt, weil er sich kritisch über Mohammed geäußert hatte und dafür von Muslimen angegriffen worden war. Die gbs Stuttgart begleitete den Fall und berichtete für den hpd. Über 12.000 Mal, und damit so häufig wie kein anderer in diesem Sommermonat, wurde der Artikel angeklickt.

Die Verleihung des Körperschaftsstatus an die Zeugen Jehovas in den deutschen Bundesländern müsse wieder rückgängig gemacht werden – so die Einschätzung des Instituts für Weltanschauungsrecht (ifw), welche die Giordano-Bruno-Stiftung vermeldete. Ausgangspunkt war ein Urteil des Landgerichts Hamburg, das bei der Sekte die notwendigen Anknüpfungstatsachen dafür sieht, sie zulässigerweise als eine Bewegung zu bezeichnen, "welche die fundamentalen Menschenrechte missachtet".

Viele Besucher konnte zudem der kritische Kommentar von Dr. Thomas Heinrichs zu humanistischer Seelsorge anziehen. Er lehnt jedoch nicht eine Lebensberatung als solche, sondern vielmehr den heutzutage in erster Linie religiös konnotierten Begriff ab und begründet dies ausführlich.

August

Statt Sommerloch gab es in diesem Jahr zwei tragische Vorfälle, die auch die hpd-Leserschaft umtrieben: Zunächst der Suizid der österreichischen Ärztin Lisa-Maria Kellermayr, die über Covid-19 aufklärte und die Impfung dagegen empfahl und die nach einer monatelangen Hetzkampagne keinen anderen Ausweg mehr sah. Anna Wopalensky fand dazu klare Worte: "Ihr Tod ist nicht zuletzt eine Folge des fahrlässigen Kuschelkurses staatlicher Institutionen mit der Querdenker-Bewegung."

Für Erschütterung sorgte auch der Mordanschlag auf den Schriftsteller Salman Rushdie, den Daniela Wakonigg kommentierte. Der Artikel wurde so oft wie kein anderer in diesem Monat gelesen (mehr als 19.000 Mal). Auf offener Bühne wurde der Verfasser der "Satanischen Verse" motiviert durch religiösen Fanatismus mit einem Messer angegriffen. Er überlebte den Anschlag, trug jedoch dauerhafte gesundheitliche Schäden davon.

Dieselbe Autorin befasste sich auch mit den neuesten Entwicklungen im Erzbistum Köln, dem bekanntermaßen der skandalumwitterte Kardinal Rainer Maria Woelki vorsteht: Unter anderem ließ sich dieser in der Debatte um das zurückgehaltene Missbrauchsgutachten von PR-Profis beraten; kirchliche Mitarbeiter sowie Mitglieder des Diözesanpastoralrats und einiger Verbände distanzierten sich außerdem in einem Offenen Brief von ihrer Bistumsleitung und die katholische Kirchenreformbewegung Maria 2.0 schloss das erzbischöfliche Generalvikariat symbolisch aufgrund moralischen Bankrotts.

September

Das absolute Highlight im Spätsommer war mit gut 53.000 Leseinteressierten ein Interview, das Maryam Namazie, Sprecherin des Council of Ex-Muslims of Britain, mit Richard Dawkins auf der Konferenz "Celebrating Dissent" in Köln führte und das der hpd in deutscher Sprache wiedergab. Es reichte damit fast an die Jahresbestmarke aus dem April heran und war mit 367 Kommentaren der mit Abstand meistdiskutierte Beitrag des Jahres.

Ebenfalls beliebt war ein Kommentar zur "Expert*innenkommission antimuslimischer Rassismus", die sich für die Abschaffung des Berliner Neutralitätsgesetzes aussprach. Dass dieses eine "systematische und institutionalisierte Diskriminierung gegenüber Frauen mit Kopftuch ohne sachliche Rechtfertigung" sei, nannte Autorin Daniela Wakonigg eine bewusst einseitige und nicht haltbare Sicht der Dinge.

Die stellvertretende Chefredakteurin des hpd war es auch, die ein vielbeachtetes Interview mit Philosoph und Kognitionsforscher Thomas Metzinger über künstliches Bewusstsein führte.

Oktober

Die meisten Aufrufe entfielen hier mit circa 16.500 auf Florian Schwarz' Abhandlung zum geplanten Selbstbestimmungsgesetz, durch das es einfacher werden soll, die offizielle Eintragung des Geschlechts zu ändern. Unaufgeregt und sachlich fundiert stellte der Autor ein emotional aufgeladenes Thema in seinen vielen Facetten dar.

Auf Platz zwei landete ein weiterer Text zu Rudolf Steiners Rassismus von Andreas Lichte.

Das Trio komplettierte Oranus Mahmoodis Bericht über den barbusigen Protest vor der DITIB-Moschee in Köln anlässlich des erstmals dort ertönenden Muezzin-Rufs zum Freitagsgebet.

November

Zwei der am häufigsten gelesenen Artikel in diesem Herbstmonat erschienen am selben Tag und drehten sich jeweils um christliche Symbolik und öffentliche Gebäude. hpd-Chefredakteur Frank Nicolai kommentierte die Debatte um das Bibelzitat auf der Kuppel des wiedererrichteten Berliner Stadtschlosses. Anlass war die angedachte "temporäre Überblendung" der Inschrift "mit alternativen, kommentierenden und reflektierenden Texten" (Gut 9.000 Klicks).

Dann war da noch der "Kreuz-Eklat" von Münster im Zuge des G7-Außenministertreffens. Man hatte auf Initiative des Außenministeriums im Friedenssaal des Historischen Rathauses vorübergehend ein Kreuz entfernt, da "Menschen mit unterschiedlichem religiösen Hintergrund an dem Treffen teilnehmen würden". Die Aufregung war groß und drängte die eigentlichen Inhalte des Gipfels in den Hintergrund, was die stellvertretende Chefredakteurin des hpd anprangerte.

Mit einem Grundsatztext zum Wesen des Glaubens, der mehr als das nie sein kann, erreichte auch Hugo Stamm viele Leserinnen und Leser.

Dezember

Am Nikolaustag verriet Daniela Wakonigg der hpd-Leserschaft, wie sie durch die Figur, die brave Kinder beschenkt und unartige bestraft, das Zweifeln lernte.

In Österreich wurde in diesem Winter eine gesellschaftliche Debatte über die Grußformel "Grüß Gott" geführt, die gerade nichtgläubige Menschen naturgemäß kritisch sehen. Gerhard Engelmayer zeigte auf, warum dieser Gruß heute nicht mehr zeitgemäß ist.

Ein weiterer österreichischer Beitrag bildete den letzten zahlenmäßigen leserischen Höhepunkt des hpd-Jahres: Auf knapp 8.000 Aufrufe kam Roland Gugganig, der sich mit der Differenzierung zwischen Atheismus, Theismus und Agnostizismus auseinandersetzte.

Wir danken unseren Leserinnen und Lesern für ihr Interesse. Wir freuen uns, Ihnen auch 2023 mit säkularem Blick auf die Welt berichten zu dürfen.

Unterstützen Sie uns bei Steady!