Ein Jahr Ukrainekrieg

Es ist auch unser Krieg

Heute vor einem Jahr begann der Ukrainekrieg, der in vielfacher Hinsicht eine Zeitenwende einläutete. Eine lautstarke Minderheit in Deutschland betrachtet den Krieg als Territorialkonflikt und fordert ein Ende der Unterstützung der Ukraine mittels Waffenlieferungen, um nicht selbst in den Krieg hineingezogen zu werden. Doch auch ohne selbst Kriegspartei zu sein, ist dieser Krieg längst auch unserer. Denn Putin hat nicht nur der Ukraine den Krieg erklärt, sondern dem Westen und seinen Werten. Ein Kommentar der stellvertretenden hpd-Chefredakteurin Daniela Wakonigg.

"Das war noch vor dem Krieg" – bis heute läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken, wenn jemand diesen Satz sagt und mit ihm den Ukrainekrieg meint. "Vor dem Krieg" – das bedeutete den Großteil meines Lebens die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Natürlich hat es seitdem unzählige weitere Kriege gegeben, sogar in Europa, doch dieser Krieg hier ist anders. So anders, dass wir wieder von einer Zeit "vor dem Krieg" sprechen. Dieser Krieg hat also tatsächlich eine "Zeitenwende" eingeläutet, wie Bundeskanzler Olaf Scholz es formulierte.

Doch warum ist dieser Krieg eigentlich so besonders? Jene, die sich derzeit vehement für ein Ende der Waffenlieferungen an die Ukraine aussprechen, betrachten diesen Krieg als Territorialkonflikt, bei dem wir uns am besten raushalten sollten – vor allem, um durch eine Einmischung selbst keinen Schaden zu nehmen. Neben von russischer Propaganda genährten falschen Behauptungen, dass die Ukraine ohnehin keine Chance habe und dass sie sowieso irgendwie immer schon zu Russland gehört habe, sind so in den Sozialen Medien auch immer wieder Kommentare zu lesen wie "Sollen die sich da drüben doch die Köppe einhauen, was haben wir damit zu tun?".

Was also haben wir mit diesem Krieg zu tun? "Die Ukraine verteidigt auf dem Schlachtfeld gerade die Werte, wegen denen sich Europa vereinigt hat und vereinigt", erklärte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj Anfang Februar beim Besuch der EU-Kommission in Kiew. Ohne Zweifel auch ein diplomatischer Schachzug, um für mehr Unterstützung zu werben. Doch Selenskyi spricht damit auch etwas aus, das jene, die den Ukrainekrieg für einen Territorialkonflikt halten, anscheinend nicht wahrhaben wollen: Dieser Krieg ist tatsächlich auch unser Krieg. Leider. Ein Krieg, den wir nicht wollten und den wir nicht begonnen haben. Begonnen hat diesen Krieg der russische Präsident Wladimir Putin. Es ist ein Krieg, der sich eben nicht nur gegen die Ukraine richtet, sondern auch gegen unsere freiheitliche Grundordnung und unser westliches Wertesystem – oder präziser: gegen all jene Menschen, die diese Grundordnung und diese Werte dem russischen Staat putinscher Prägung vorziehen.

Denn worum genau geht es Putin eigentlich? Was die territoriale Frage betrifft, ist es schon seit Längerem kein Geheimnis mehr, dass Putin und andere Nationalisten von einem großrussischen Reich träumen, zu dem ganz selbstverständlich heute souveräne Staaten gehören sollen, die irgendwann im Laufe der Geschichte einmal unter dem Einfluss Moskaus standen. Und damit sind längst nicht nur die Ukraine und Belarus gemeint. Sogar die Besetzung Ostdeutschlands scheint so manchem pro-russischen Kriegsfürsten inzwischen eine Option. Dass die Länder des ehemaligen Ostblocks aufgrund von Putins Großmachtfantasien alarmiert sind, ist also durchaus verständlich. Und allein die Tatsache, dass Putin mit seinem Einmarsch in einen souveränen Staat bewiesen hat, dass er auf die Einhaltung von Verträgen und aufs Völkerrecht keinen Pfifferling gibt, wenn es um die Umsetzung seiner Fantasien geht, sollte eigentlich bereits Grund genug sein, um ihm überdeutlich klar zu machen, dass hier eine rote Linie überschritten wurde.

Doch es geht eben nicht nur um die territoriale Frage. Seit seiner erstmaligen Ernennung zum Präsidenten vor über zwanzig Jahren hat Putin Russland nach und nach in einen autokratischen Staat übelster Sorte verwandelt. Es gibt in Russland schon längst keine Meinungs- oder Pressefreiheit mehr, ja, man darf nicht einmal den Krieg in der Ukraine als Krieg bezeichnen, ohne dafür bestraft zu werden. Eine Opposition gibt es de facto nicht mehr, Oppositionelle werden eingesperrt oder per Mord direkt vollständig beseitigt. Demokratie, Meinungsfreiheit, sexuelle Vielfalt, Atheismus und viele andere Dinge gelten Putin und den Seinen als minderwertig und Erfindungen des Westens. Westliche Erfindungen, die das lupenreine russische Wesen infiltrieren und die deshalb bekämpft werden müssen. Putins Kampf richtet sich dabei sowohl nach innen – also nach Russland – wo er Russen, die diese Werte hochhalten, mundtot macht, als auch nach außen – also auf jene Gebiete, die er als Teil seines imaginären russischen Großreichs betrachtet. Eine Ukraine, die sich aus freien Stücken für liberale westliche Werte entscheidet, musste also zwangsläufig zur Umkehr gezwungen werden. Auch deshalb befinden wir uns in der moralischen Verpflichtung, der Ukraine gegen den Aggressor zu helfen.

Doch bekanntlich sehen das einige anders. In ihrem jüngsten Friedens-Manifest fordern Alice Schwarzer und Sarah Wagenknecht, dass der Krieg durch Verhandlungen beendet und die Waffenlieferungen an die Ukraine eingestellt werden sollen. Es stellt sich jedoch ernsthaft die Frage, wie solche Verhandlungen mit einem Menschen stattfinden sollen, der von Großmachtfantasien erfüllt ist und der westliche Werte als minderwertig ablehnt, ja sie sogar als Bedrohung betrachtet. Putin versteht diese Sprache nicht, die Schwarzer und Co. einfordern, er verachtet Pazifisten als Schwächlinge. Seine Sprache ist die der Gewalt, also wird man sie wohl oder übel mit ihm sprechen müssen.

Der Ruf nach Verhandlungen mit Moskau ist umso unverständlicher, da bereits in den Monaten "vor dem Krieg" die diplomatischen Verhandlungen mit Moskau auf Hochtouren liefen. Wobei die westlichen Diplomaten dreist von Putin und seinem Außenminister Lawrow angelogen wurden, dass niemand die Absicht habe, in die Ukraine einzumarschieren. Putin ist ein pathologischer Lügner, wenn es seiner Sache dient, wie sich nicht nur im Verlauf des vergangenen Kriegsjahrs mehrfach zeigte. Wie soll man hier noch einen Vertrauensvorschuss geben, der für jede Art von Verhandlung elementar ist?

Überhaupt scheinen diejenigen, die angesichts dieses Kriegs in pazifistischen Träumereien schwelgen, so manches nicht zu verstehen. Der Ukraine Waffenlieferungen zu versagen, würde nichts anderes bedeuten, als jene Ukrainerinnen und Ukrainer, die mit überdeutlicher Mehrheit nicht nach russischer Fasson leben wollen und sich dagegen mit aller Kraft zur Wehr setzen, Putin ans Messer zu liefern. Denn in einer Ukraine unter russischer Führung würden ausgedehnte Säuberungswellen für die stromlinienförmige Ausrichtung nach Moskau sorgen. Entsprechende Gräueltaten russischer Truppen in der Ukraine sowie zwecks Umerziehung nach Russland verschleppte ukrainische Kinder geben einen Vorgeschmack.

Doch was passiert, wenn nicht verhandelt wird? Wenn die Ukraine mit Hilfe westlicher Waffen militärisch immer stärker gemacht wird und Putins Truppen nicht ihr Ziel erreichen? So die besorgten Fragen Mancher. All jenen, die sich vor einem neuen Kalten Krieg fürchten, sei gesagt, dass wir ihn bereits haben. Und das einzig und allein Dank Putin, der mit seinem Einmarsch in die Ukraine für eine neue ideologische Grenzziehung in der Welt und eine Verhärtung der Fronten gesorgt hat. Wir müssen uns wohl oder übel mit der neuen Weltsituation arrangieren.

Der letzte Kalte Krieg endete übrigens nicht aufgrund von Verhandlungen mit Russland aus einer Position militärischer Schwäche. Er endete, weil sich beide Lager im gleichen Maße militärisch bedrohten, die sowjetische Wirtschaft in einem desolaten Zustand war und in Moskau ein Mann an die Schalthebel der Macht kam, der Vernunft statt Großmachtfantasien hatte. Auch dieser Krieg, da bin ich sicher, wird nicht enden, solange in Russland Putin und die Verfechter eines großrussischen Reichs an der Macht sind.

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