Kommentar

Selbstbestimmung: Mit zweierlei Maß gemessen

Zwei Themen, in denen es fundamental um das Selbstbestimmungsrecht geht, beschäftigen derzeit die deutsche Politik. Während der Gesetzentwurf zum sogenannten "Selbstbestimmungsgesetz" die Selbstbestimmung des Individuums quasi absolut setzt, will der Gesetzgeber in der Neuregelung der Sterbehilfe die Selbstbestimmung des Individuums massiv beschränken. Die Politik sollte ihre Maßstäbe in punkto Selbstbestimmung kalibrieren.

Politische Entscheidungen sind mitunter schwer nachzuvollziehen. Das liegt manchmal daran, dass politische Probleme komplex und schwierig zu verstehen sind. Manchmal liegt es aber auch daran, dass jene, die politische Entscheidungen treffen, Dinge schlicht nicht ausreichend durchdacht haben.

Ein aktuelles Beispiel für die letzte Kategorie findet sich derzeit in zwei Gesetzesvorhaben, in denen es in unterschiedlicher Hinsicht um das Thema "Selbstbestimmung" geht. Zum einen das sogenannte "Selbstbestimmungsgesetz", das das "Transsexuellengesetz" ablösen soll und in dem es um die Frage der Selbstbestimmung in Hinblick auf die offizielle Geschlechtsidentität geht. Zum anderen die sogenannte "Sterbehilfegesetzgebung", die festlegen soll, in welcher Weise Suizidhilfe bei einem Freitodwunsch angenommen und geleistet werden darf. In Bezug auf die Sterbehilfegesetzgebung liegen derzeit gleich zwei unterschiedliche Gesetzentwürfe vor, über die morgen im Bundestag abgestimmt werden soll.

Nun sind die Freiheit des Individuums und die Selbstbestimmung in einer freiheitlichen Gesellschaft hohe Güter. Eine gesetzlich festgelegte Grenze kann selbigen nur da gesetzt werden, wo das Ausleben der Freiheit und Selbstbestimmung eines Individuums andere Individuen beeinträchtigt. Im Fall nicht geschäftsfähiger Personen kann der Gesetzgeber auch eine Grenze festlegen, um eine Person während des Zustands der Nicht-Geschäftsfähigkeit vor sich selbst zu schützen.

Diese Grenzlinie sollte der Gesetzgeber möglichst einheitlich gestalten, um die Gesetzgebung für den Bürger nachvollziehbar zu machen. Eben diese einheitliche Grenzziehung ist bei den gegenwärtigen Gesetzesvorhaben zur Selbstbestimmung jedoch nicht zu erkennen. Im Gegenteil.

Bei allen Unterschieden der beiden Gesetzentwürfe zur Sterbehilfegesetzgebung haben beide doch einiges gemeinsam: Beide stellen einen schweren Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht des Individuums dar. Der sogenannte liberale Entwurf (Künast/Helling-Plahr) sieht eine Zwangsberatung vor, der restriktivere Entwurf sogar eine psychiatrische Zwangsbegutachtung (Castellucci), ehe Suizidhilfe in Anspruch genommen werden darf. Hierbei soll festgestellt werden, ob der Suizidwillige seine Entscheidung tatsächlich freiverantwortlich getroffen hat und ob die Entscheidung von einer "gewissen Dauerhaftigkeit" und "inneren Festigkeit" getragen ist, wie es das Bundesverfassungsgericht 2020 formulierte.

Geradezu absurd ist hierbei, dass das – durch Zwangsberatung oder psychiatrische Begutachtung – erstellte Attest über eine vorhandene Dauerhaftigkeit des Suizidwunsches nach wenigen Monaten verfällt. Ein Absolvieren dieser Hürde mit zeitlichem Vorlauf, solange man zum Beispiel im Falle einer tödlichen Erkrankung noch einigermaßen bei Kräften ist, ist also nicht möglich. Auch wer sein Leben lang immer wieder festhält, dass er im Falle von Krankheit oder Lebenssattheit per Suizid aus dem Leben scheiden möchte, erfüllt nicht das Kriterium der Dauerhaftigkeit des Suizidwunsches, da diese nur durch ein kurzfristig zu erwerbendes, schnell verfallendes Attest nachgewiesen werden kann. Zu betonen ist, dass es hier um voll geschäftsfähige, erwachsene Personen geht. Denn beide Gesetzentwürfe sehen vor, dass Kinder und Jugendliche unter 18 generell keine Suizidbeihilfe in Anspruch nehmen dürfen, auch nicht im Falle schwerer tödlicher Krankheiten mit hohem Leidensdruck. Überdies wird bei der Inanspruchnahme von Suizidhilfe keine andere Person in ihren Freiheiten und ihrem Selbstbestimmungsrecht beeinträchtigt – vorausgesetzt, dass der Suizidhelfer sich frei entscheiden darf, ob er diese Hilfe leisten möchte oder nicht.

Während der Gesetzgeber derzeit plant, im Bereich der Freitodhilfe die Selbstbestimmung voll geschäftsfähiger Personen massiv zu beschränken, plant er gleichzeitig im Bereich der geschlechtlichen Identifikation bereits bei beschränkt geschäftsfähigen Personen die unbegrenzte Selbstbestimmung.

Beim geplanten Selbstbestimmungsgesetz entsprechen die Regelungen in allem gewissermaßen dem Gegenteil. Für die offizielle Änderung des Geschlechtseintrags ist keinerlei Beratung oder psychiatrisches Gutachten mehr notwendig. Der Geschlechtseintrag kann außerdem alle 15 Monate geändert werden (3 Monate Wartezeit bis zur Gültigkeit + 12 Monate Wartefrist zur nächsten möglichen Änderung). Was insofern erstaunlich ist, als das Bundesverfassungsgericht 2011 als ein zentrales Merkmal der Transsexualität ebenfalls die Dauerhaftigkeit betrachtete: "Transsexuelle leben in dem irreversiblen und dauerhaften Bewusstsein, dem Geschlecht anzugehören, dem sie aufgrund ihrer äußeren körperlichen Geschlechtsmerkmale zum Zeitpunkt der Geburt nicht zugeordnet wurden."

Die Entscheidung, den offiziellen Geschlechtseintrag ändern zu lassen, dürfen bereits 14-Jährige fällen, die in sämtlichen anderen Angelegenheiten vom Staat für lediglich beschränkt geschäftsfähig gehalten werden. Auch, ob das geplante Selbstbestimmungsgesetz möglicherweise die Freiheiten anderer beeinträchtigt, wird derzeit diskutiert. Das soll hier jedoch nicht Thema sein.

Kurzum: Während der Gesetzgeber derzeit plant, im Bereich der Freitodhilfe die Selbstbestimmung voll geschäftsfähiger Personen massiv zu beschränken, plant er gleichzeitig im Bereich der geschlechtlichen Identifikation bereits bei beschränkt geschäftsfähigen Personen die unbegrenzte Selbstbestimmung. Von einheitlichen Kriterien in Hinblick auf Grenzen kann bei den beiden Gesetzesvorhaben also nicht die Rede sein.

Man mag einwenden, dass das schutzwürdige Gut in beiden Fällen relevante Unterschiede aufweist. Während es im einen Fall um das Leben eines Individuums geht, das der Gesetzgeber wähnt, schützen zu müssen, geht es im anderen Fall "nur" um den Geschlechtseintrag. Hierbei übersieht der Gesetzgeber jedoch, dass für das Individuum auch extrem negative Folgen aus der vereinfachten Änderung des Geschlechtseintrags resultieren können. Denn während die staatliche Anerkennung des empfundenen Geschlechts für echte Transsexuelle eine enorme Erleichterung darstellt, ja sogar lebensrettend sein kann, kann die durch vereinfachte offizielle Geschlechtsänderung stattfindende Zementierung einer transsexuellen Phase während der sexuellen Findungszeit der Pubertät schwerwiegende Folgen haben: Mit geändertem Geschlechtseintrag werden sich Ärzte leichter zur Gabe von Hormonen und Pubertätsblockern überreden lassen, die zu einer Störung der körperlichen Entwicklung führen und im späteren Leben Unfruchtbarkeit zur Folge haben können. Sollte sich herausstellen, dass die empfundene Transsexualität nicht von Dauer war, eine ziemlich gravierende Folge.

Natürlich gehört zur Freiheit des Menschen in einem freiheitlichen Staat auch, dass er die Freiheit haben muss, Entscheidungen zu treffen, die sich möglicherweise nachteilig auf sein Leben auswirken. Warum der Gesetzgeber dem Individuum diese Freiheit im geplanten Selbstbestimmungsgesetz vollumfänglich zubilligt, bei der geplanten Neuregelung der Sterbehilfe jedoch nicht, ist schlicht nicht nachvollziehbar. Hier wird deutlich mit zweierlei Maß gemessen. Es wäre deshalb dringend an der Zeit, dass der Gesetzgeber seine Maßstäbe in punkto Selbstbestimmung frisch kalibriert.

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