Was Christen oder Muslime glauben, das ist in groben Zügen so ziemlich jedem geläufig. Dagegen ist in der Öffentlichkeit so gut wie nichts darüber bekannt, was konfessionsfreie Menschen denken und für "glaubwürdig" halten. Das ist eigentlich erstaunlich, bilden sie doch in Deutschland mehr als ein Drittel der Bevölkerung, in Berlin zum Beispiel stellen sie die übergroße Mehrheit dar.
Eine repräsentative Befragung des Meinungsforschungsinstitut Emnid im Frühjahr 2016 ergab für Berlin, dass sich 61 Prozent der Berliner als konfessionsfrei, 21 Prozent als evangelisch und 9 Prozent als Mitglied der katholischen Kirche bezeichneten. In den restlichen 9 Prozent sind Muslime, Juden und ca. 50 weitere Religionsgemeinschaften enthalten.
Konfessionsfreie vertreten mehrheitlich eine Weltanschauung, die sich bewusst von Religion und einem über Allem stehenden Gott abgrenzt. Eine Minderheit unter ihnen ist zwar aus der Kirche ausgetreten, betrachtet sich aber oft noch in irgendeiner Weise als religiös.
Nichtreligiöse Menschen gibt es offiziell faktisch nicht
Rundfunk und Fernsehen halten sich vornehm zurück, wenn es um die Darstellung des Denkens und Handelns nichtreligiöser Menschen in Deutschland geht. Dabei ist in allen Staatsverträgen, die zwischen jedem Bundesland und den jeweiligen Rundfunk- und Fernsehanstalten geschlossen wurden, ausdrücklich festgeschrieben, dass diese über alle relevanten gesellschaftlichen Gruppierungen und über alle relevanten gesellschaftlichen Ansichten und Meinungen angemessen zu berichten hätten. Aber lediglich die "staatstragenden" Religionen haben Vertreter in den Medienräten. Und von denen verfügen fast nur die christlichen Kirchen über eigene Redaktionen und feste Sendezeiten. Diese besitzen somit trotz aller behaupteten Trennung von Staat und Religion ein staatlich gewährtes Privileg.
Bei den Tages- und Wochenzeitungen sieht es ähnlich aus. Weltanschauliche Fragen, die um die Themen weltlicher Humanismus, Religionskritik, gar Atheismus kreisen, scheinen geradezu tabu zu sein. Angesichts der Vielzahl von religions- und kirchenkritischen Büchern – siehe bei den Internet-Buchversendern, nicht in den Buchhandlungen! – ist es auffällig, dass solche Literatur praktisch nie in den Kultur- und Literaturteilen der Druckmedien erwähnt wird. Ausnahmen bilden allenfalls mal ein Buch eines hochrenommierte Autors wie Richard Dawkins ("Der Gotteswahn") oder ein Interview mit dem säkularen Humanisten Michael Schmidt-Salomon.
Religiöse und die Kirchen betreffende Fragen werden täglich, ausführlich und wie selbstverständlich in Funk und Presse thematisiert. Konfessionsfreie Menschen erheben den Anspruch, mit eben solcher Selbstverständlichkeit weltanschauliche Alternativen zur Religion und Themen, die sich kritisch bis ablehnend mit Religion befassen, öffentlich zu diskutieren. Immerhin betreffen solche Themen mehr als ein Drittel der deutschen Bürger, in den Großstädten mit ihren vielfältigen Bildungsangeboten sogar die Mehrheit. Haben nicht Rundfunk und Fernsehen, aber natürlich auch die Druckmedien, geradezu den – selbst auferlegten – Auftrag, über alles, was von gesellschaftlicher Bedeutung ist, zu berichten? Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 25. März 2014 zum ZDF-Staatsvertrag ausgeführt: "Neben großen, das öffentliche Leben bestimmenden Verbänden müssen untereinander wechselnd auch kleinere Gruppierungen, die nicht ohne weiteres Medienzugang haben, und auch nicht kohärent organisierte Perspektiven (in den Aufsichtsgremien; U.L.) abgebildet werden." Die Ausführungen bezogen sich zwar auf die Ausgestaltung des ZDF-Staatsvertrags, bilden aber erkennbar eine Aussage von allgemeinerer Bedeutung.
Der Artikel erschien zuerst in einer gekürzten Fassung in der Berliner Tageszeitung "Tagesspiegel" . Der Autor hat dem hpd den kompletten Text zur Veröffentlichung überlassen.
Als entschuldigendes Argument wird regelmäßig vorgetragen, dass die Konfessionsfreien nicht repräsentativ organisiert seien, keinen Ansprechpartner hätten und von daher als quasi nicht vorhanden erscheinen. Abgesehen davon, dass Unorganisiertheit kein Argument sein kann für die Missachtung des Rechts auf mediale Berücksichtigung relevanter Bevölkerungsgruppen. In dieser Pauschalität trifft das Argument der nicht existierenden Ansprechpartner ohnehin nicht zu. KORSO ist ein Verbund von acht bundesweiten und einigen weiteren regionalen säkularen Organisationen, in denen konfessionsfreie Menschen sich zusammengeschlossen haben. Eine dieser bundesweit agierenden Organisationen, in der sich nichtreligiöse Menschen zusammengefunden haben, ist zum Beispiel der Humanistische Verband Deutschland (HVD). Der HVD ist in Berlin Träger von über 60 sozialen, kulturellen und pädagogischen Projekten und Einrichtungen. Er hat in Berlin etwa 12000 Mitglieder und rund 1.000 hauptamtliche und über 750 ehrenamtliche Mitarbeiter. Er unterstützt – vergleichbar den Kirchen – Menschen in allen Lebensphasen: von der Schwangerschaft, feierlichen Namensgebung, über die Kindererziehung, Jugendweihe, Jugend- und Bildungsarbeit, bis hin zur Sozialarbeit, Altenpflege und Sterbebegleitung. Derzeit erhalten ca. 60 000 Schüler und Schülerinnen durch Lehrer des Humanistischen Verbandes humanistischen Lebenskundeunterricht, ein fakultativer Weltanschauungsunterricht statt der bisher üblichen religiösen Unterweisung.
Humanistische Vorstellungen sind überraschend weit verbreitet
Über solche umfangreichen Aktivitäten eines betont nichtreligiösen Verbands wenigstens gelegentlich zu berichten, sollte für die Rundfunkhörer, Fernsehzuschauer oder Zeitungsleser nicht interessant sein? Wo doch selbst nebensächliches kirchliches Geschehen oder nur mäßig interessante Äußerungen ihrer Repräsentanten stets Eingang in unsere Medien finden. Bei rund 3 Mill. Berliner Bürgern über 14 Jahre wären das bei etwa 60 Prozent Konfessionsfreien etwa 1,8 Mill. potentielle Interessenten. Das einzige Presseorgan Deutschlands, das regelmäßig und umfassend Nachrichten und Kommentare zu aktuellen Ereignissen bringt, die die deutsche und internationale humanistische Szene betreffen, ist der Humanistische Pressedienst (hpd.de). Mit mehr als 5.000 Klicks pro Tag und mehr als 2 Millionen Seitenaufrufen im Jahr ist dieses Internetportal das wichtigste Online-Medium zu freigeistig-humanistischen Themen im deutschsprachigen Raum.
"Themen wie säkularer Humanismus, Leben ohne Gott, der problematische politische Einfluss der Kirchen, Trennung von Kirche und Staat, Sterbehilfe aus humanistischer Sicht u.v.a.m. werden in der deutschen Medienlandschaft weitgehend gemieden."
Leider zeigt sich auch hier, dass Presse, Rundfunk und Fernsehen Nachrichten aus der säkularen Welt dort offenbar auch nur sehr zurückhaltend, wenn überhaupt abrufen. Themen wie säkularer Humanismus, Leben ohne Gott, der problematische politische Einfluss der Kirchen, Trennung von Kirche und Staat, Sterbehilfe aus humanistischer Sicht u.v.a.m. werden in der deutschen Medienlandschaft weitgehend gemieden. Die Behandlung solcher Themen würde deutlich machen, dass es eine lebendige und aktive humanistische Szene in Deutschland gibt. Das ist politisch augenscheinlich unerwünscht. Daher ist es verständlich, dass in oben erwähnter Emnid-Befragung 54 Prozent der interviewten Berliner sich durch die Medien und die Politik nicht ausreichend über die große Gruppe der Konfessionsfreien informiert fühlen.
Seit 2016 haben in Berlin Schüler mit humanistischer Lebensauffassung am 21. Juni, dem Welthumanistentag, Anspruch auf einen schulfreien Tag. Bischof Markus Dröge war pikiert und empfand diese Gleichbehandlung von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, die übrigens im Grundgesetz festgeschrieben ist, als "Entwertung des christlichen Glaubens". Welcher anmaßende Anspruch seitens einer religiösen Lehre, die in dieser Stadt nur scheinbar noch 30 Prozent ihrer Bürger vertritt, steckt in dieser Aussage!
Dass die Mitgliedschaft in der Kirche in sehr vielen Fällen nur noch ein formale ist, geht ebenfalls aus obiger Umfrage hervor. Diese repräsentative Studie erbrachte hinsichtlich der Einstellung auch der kirchlich organisierten Bürger höchst bemerkenswerte Einsichten und ließ erkennen, wie wenig lebensbestimmend christliche Auffassungen selbst bei Kirchenmitgliedern noch sind. Eine der zu beantwortenden Aussagen lautete: "Ich führe ein selbstbestimmtes Leben, das auf ethischen und moralischen Grundüberzeugungen beruht und frei ist von Religion und Glauben an einen Gott." Überwältigende 74 Prozent der befragten Berliner stimmten mit einer solchen humanistischen Lebensauffassung überein.
85 Prozent der Konfessionsfreien stimmten dieser Aussage zu, aber auch 57 Prozent der Katholiken und 64 Prozent der Protestanten äußerten, ein Leben "frei von Religion und Glauben an einen Gott" zu führen! Und sicher wird für viele gläubige Leser ein weiteres Ergebnis der Umfrage als irritierend empfunden, dass nämlich mit steigendem Bildungsgrad die Zustimmung zu humanistisch-säkularen Lebensauffassungen wächst, das heißt, zu religiösen Ansichten abnimmt. Ein Phänomen, das von allen großen Städten in Deutschland bekannt ist.
Ein säkularer Humanist "glaubt" nicht
Was heutige Humanisten denken, von welchen Wertvorstellungen sie ausgehen, ist besonders unter Gläubigen weithin unbekannt. Allenfalls assoziiert man die Ablehnung von Religion und die Verneinung der Existenz eines Gottes. Verbunden sind diese Auffassungen oft mit der Unterstellung, dass religionslose, erst recht atheistisch eingestellte Menschen keine Moral kennen würden, da sie sich keiner göttlichen Macht gegenüber verpflichtet fühlen. Offenbar gehen diese gläubigen Menschen davon aus, dass moralische Prinzipien, die unser Tun und Unterlassen regeln, nur in Gott verankert sein könnten. Tatsächlich kann die noch junge Soziobiologie zeigen, dass auch Moral sich evolutionär entwickelt hat. Denn wie anders ist es zum Beispiel zu erklären, dass die Kernsätze der Zehn Gebote weltweit verbreitet sind, unabhängig von jeder Religion und Gottesvorstellung. Aber auch Menschen können Normen des Verhaltens vereinbaren und auf deren Einhaltung dringen, wie etwa die "Amerikanische Unabhängigkeitserklärung" oder die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" zeigen.
"Was heutige Humanisten denken, von welchen Wertvorstellungen sie ausgehen, ist besonders unter Gläubigen weithin unbekannt."
Der Mensch kann sich also seine ethischen Normen und Regeln selbst geben. Die Missbilligung von kirchlicher Seite an der angeblichen Selbstherrlichkeit des Menschen lautet, dass "eine solche Ethik sich nur noch an den tatsächlichen oder mutmaßlichen Interessen orientiere, die ein Mensch habe". Von einem Humanisten würde das nicht als Kritik aufgefasst werden. Eher als Bestätigung des Grundsatzes, dass der Mensch – immer mit Blick auf die Verantwortung auch für den anderen – das Maß der Dinge sei und nicht eine in sog. heiligen Schriften beschriebene göttliche Wesenheit.
Der sich in den letzten Jahrzehnten herausgebildete sog. Neue Humanismus versteht sich somit als eine weltliche Alternative zur Religion, als eine Weltsicht, die ohne Götter, Propheten und Priester auskommt, kein angeblich von einem Gott diktiertes heiliges Buch und keine Dogmen kennt, das Wissen über die Welt und den Menschen vor allem aus den Naturwissenschaften gewinnt, sich von überkommenen, metaphysischen Moralvorstellungen gelöst hat, stattdessen ethische Normen an den fundamentalen Bedürfnissen und Interessen der Menschen orientiert. Es ist deshalb der oft geäußerten Meinung zu widersprechen, dass der weltliche Humanismus beziehungsweise der Atheismus auch eine Form des Glaubens sei, mitunter wird sogar von einem »religiösen Atheismus« gesprochen. Wenn zum Wesen einer Religion die Annahme einer göttlichen beziehungsweise transzendenten Macht gehört, die in irgendeiner Weise auf mein Leben Einfluss nimmt, dann ist es unsinnig und unlogisch, auch dem weltlichen Humanismus oder dem Atheismus religiöse Züge zuzusprechen oder diesen als einen "Glauben" zu bezeichnen. Der weltliche Humanismus ist ein strikt diesseitsorientiertes Lebenskonzept ohne jeden transzendenten Bezug.
Die drei Säulen einer naturalistisch-humanistischen Weltanschauung
Dieser "Neue Humanismus" besteht vereinfacht gesagt aus drei Komponenten: Einem naturalistischen Weltbild, einem säkularen Wertesystem und einer strikten Diesseitsorientierung. Für mich persönlich würde ich mein humanistisches Bekenntnis wie folgt beschreiben, und ich denke, dass sich sehr viele meiner humanistischen Freunde dieser Sicht anschließen können.
Erstens: Ich betrachte das, was die heutigen Naturwissenschaften als derzeit gesicherte Erkenntnis ansehen, für mich zunächst einmal als maßgebend und als Basis für alle weiteren Überlegungen. Vor allem ist es die rationale, logische und systematische Denkweise der heutigen Naturwissenschaften und ihre empirische Verankerung, die ich mir zum Vorbild genommen habe. Ich bin höchst skeptisch allem gegenüber, was für sich Gültigkeit, ja Wahrheit beansprucht, ohne dafür wenigstens plausible Gründe angeben zu können. Dennoch ist nicht zu bestreiten, dass Wissenschaft heute noch vieles nicht erklären kann, und dass unser Wissen begrenzt und vielleicht niemals vollständig sein wird.
Zweitens: Ein säkulares Wertesystem kennt statt einer göttlich gestifteten Moral eine vernunftbasierte Ethik. Ein solches säkulares Wertesystem orientiert seine Normen und Regeln an den fundamentalen Bedürfnissen und Interessen der Menschen. Der Mensch ist also das Maß der Dinge, nicht eine behauptete, nicht erkennbare Instanz über uns. Dieses säkulare Wertesystem drückt sich aus in humanistischen Grundsätzen und allgemein anerkannten Menschenrechten wie Selbstbestimmung, Gleichheit und Freiheit der Menschen, Solidarität und soziale Gerechtigkeit, Toleranz gegenüber anderen Weltanschauungen.
Im Zentrum meines humanistischen Konzepts steht jedenfalls die Aussage, die in den Ohren vieler Menschen wie eine Provokation klingen mag, dass der Mensch das Maß aller Dinge sei. Dabei bin ich mir sehr wohl bewusst, dass der bloße Austausch von Instanzen noch keine Garantie für eine bessere Lösung darstellt. Aber nicht einzelne Menschen sollen hier über grundlegende Normen und problematische ethische Fragen entscheiden, sondern miteinander kommunizierende Menschen, die aufgrund von Sachverstand, Lebenserfahrung und Folgenabschätzung wägen und urteilen. Insofern hätten Ethik-Kommissionen ihre Berechtigung, wenn sie denn tatsächlich ein Spiegelbild der moralisch-ethischen bzw. weltanschaulichen Auffassungen der Bürger und nicht einseitig kirchlich-religiös dominiert wären.
Da Menschen naturgemäß unterschiedliche Bedürfnisse und Interessen haben, sollte das Prinzip des fairen Interessenausgleichs gelten. Unterschiedliche Interessen müssen nach dem Fairnessprinzip ausgehandelt werden. Das bedeutet, dass man sich um des gesellschaftlichen Friedens willen immer zu fragen hat: Was ist gleichermaßen gut und akzeptabel für alle beteiligten Seiten.
Und drittens: Meine strikte Diesseitsorientierung basiert auf der Einsicht, dass ich – höchstwahrscheinlich – nur dieses eine Leben habe. Folglich sollte ich versuchen, das Bestmögliche aus meinem Leben zu machen. Dieses Streben nach Erfüllung meines Lebens muss aber immer auch den Mitmenschen im Blick haben, der ebenso glücklich werden will. Deshalb gelingt ein erfülltes Leben am besten dadurch, dass man sich gesellschaftlich engagiert, sei es im politischen, im humanitären, vielleicht im künstlerischen Bereich. Und schließlich: Wer sich bemüht hat und wem es gelungen ist, auf ein erfülltes, glückliches Leben zurückblicken zu können, dem wird es leichter fallen, von dieser Lebensbühne wieder abzutreten.
Aber es gibt noch einen Punkt, den ich hier ansprechen will. Einer naturalistischen Weltanschauung wird gern "emotionale Armut" vorgeworfen, eine "reduzierte Wirklichkeitswahrnehmung" oder "Blindheit gegenüber den seelischen Bedürfnissen eines Menschen, der sich in existentieller Not befindet". Diese Vorwürfe sind nicht ganz unberechtigt. Denn wer die Religionen ablehnt und auch die Idee eines Jenseits verwirft, meidet daher meist Gedanken über Themen, die über uns hinausweisen, Fragen, die gewissermaßen die letzten Dinge betreffen. Denn Nichtgläubige haben die Sorge, wie gehabt, wieder in irrationales oder esoterisches Fahrwasser zu geraten.
Dennoch beschäftigen auch Nichtgläubige Fragen, die jenseits der rationalen Bewältigung des Alltags liegen. Auch Nichtgläubige denken über den Urgrund allen Seins nach, über die Unbegreiflichkeit der Realität, und kennen Gefühle des Einssein mit der Natur. Solche Themen sprechen eine – wie man sagen könnte – spirituelle Dimension an. Das Thema Spiritualität wird jedenfalls von vielen Nichtgläubigen inzwischen, wenn auch mit großer Zurückhaltung, als eine das Dasein bereichernde Dimension wahrgenommen. Bei dem Gedanken an die Endlichkeit der eigenen Existenz allerdings bietet für einen Nichtgläubigen die Verheißung auf ein Weiterleben im Jenseits keinen Trost. Zu offenkundig ist für ihn dieses religiöse Versprechen Wunschdenken, eine bloße Illusion.
Selbstbestimmung ist ein grundlegendes Menschenrecht
Das Selbstbestimmungsrecht ist ein Menschenrecht und hat damit Verfassungsrang. Art. 2, Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1, Abs. 1 GG garantiert jedem Menschen das Recht auf die "freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt". Die sog. Präimplantationsdiagnostik und die Sterbehilfe sind zwei Themen, an denen beispielhaft der Unterschied zwischen einer christlich-religiösen und säkular-humanistischen Auffassung im Zusammenhang mit dem Recht auf Selbstbestimmung deutlich gemacht werden kann.
Unter der Präimplantationsdiagnostik (kurz: PID) versteht man die Untersuchung von Embryonen, die im Reagenzglas erzeugt wurden, auf erblich bedingte Schäden vor ihrer Implantation in die Gebärmutter. Meist handelt es sich dabei um Eltern, die das genetische Risiko in sich tragen, ein schwerbehindertes Kind zu zeugen. Wird ein schwerwiegender Gendefekt bei dem nur drei Tage alten, 1/1000 mm großen Embryo in dessen 6- bis 8-Zell-Stadium erkannt, wird dieser Embryo dann nicht implantiert, also aussortiert, und ein nicht defekter ausgewählt. Kritiker der PID aus dem christlich-religiösen Lager sehen in diesem Ausleseverfahren die Zerstörung von menschlichem Leben, da – so wird argumentiert – ein Embryo bereits die Anlage zu einem vollständigen Menschen in sich trage. Die "Heiligkeit des Lebens", die "Ebenbildlichkeit des Menschen mit Gott" und die "Beseeltheit schon des Embryos" verbieten das Absterbenlassen von Embryonen, auch wenn sie schwere Erbschäden erkennen lassen. Die PID ist zwar nicht verboten, aber mit hohen Hürden versehen, die eine Inanspruchnahme sehr erschweren.
"In beiden ... Fällen wird das grundgesetzlich garantierte Recht auf Selbstbestimmung über das eigene Leben und den eigenen Körper massiv missachtet."
Eine ähnliche Problematik zeigt die sog. Sterbehilfe für Menschen mit unheilbarer Krankheit und unerträglichen Schmerzen, die selbst den festen Wunsch nach Erlösung von ihrem Leiden äußern. Die bisher erlaubte Hilfe eines Arztes beim selbst gewünschten Freitod ist inzwischen durch den Gesetzgeber faktisch unter Strafe gestellt worden. Dahinter steht ebenfalls die christlich-religiöse Auffassung, dass "das eigene Leben unverfügbar sei", "allein Gott entscheide, wann das Leben endet" und "als Geschenk Gottes unter keinen Umständen angetastet werden dürfe".
In beiden genannten Fällen wird das grundgesetzlich garantierte Recht auf Selbstbestimmung über das eigene Leben und den eigenen Körper massiv missachtet. Als erklärter Nichtchrist akzeptiere ich nicht, dass der Staat mir das grundgesetzlich garantierte Selbstbestimmungsrecht so weitgehend beschneidet. In einem demokratischen Staat, der vorgibt, weltanschaulich neutral zu sein, muss es möglich sein, unabhängig von religiöser Bevormundung zu leben und auch zu sterben. Immerhin haben inzwischen Gerichte bis hinauf zum Bundesgerichtshof das Selbstbestimmungsrecht am Lebensende immer wieder bestätigt.
Bei allem Protest von kirchlicher Seite an den Initiativen nichtreligiöser Kreise ist festzuhalten, dass kein Christ gezwungen ist, sich der liberaleren Auffassung eines Nichtchristen zur Sterbehilfe anzuschließen. Für einen wahren und überzeugten Christen müssten staatliche Gesetze zur Sterbehilfe, zum Schwangerschaftsabbruch oder etwa zur Präimplantationsdiagnostik überflüssig sein, denn es müsste ihm ja ein gern erfülltes Anliegen sein, Gottes Gebote, wie sie die Kirche für ihn festlegt, zu befolgen. Dass es dafür staatliche Gesetze gibt, die auch für den Nichtchristen gelten, der in diesen Fragen eventuell eine andere, ebenso zu achtende Auffassung hat, ist dem immer noch vorhandenen kirchlichen Streben nach Herrschaft "über die Seelen" geschuldet.
Dieses Streben nach Macht und Einfluss manifestiert sich in gesellschaftlichen Strukturen (z.B. im Erziehungswesen), wirkt unbewusst als tradiertes Wertesystem noch in den Köpfen selbst Glaubensferner und zeigt sich zum Beispiel in einem kirchlich-staatlichen Machtdenken, das stets mehr durch Verbieten als durch Vorleben und Überzeugen gekennzeichnet war. Diese aus dem Glauben folgenden strafbewehrten Verbote lassen einerseits erkennen, dass die Kirche ihrer eigenen Klientel nicht traut, andererseits sich anmaßt, auch allen Nichtgläubigen auf dem Umweg über staatliche Gesetze ihre Glaubensauffassung aufzuzwingen.
Wer sich bei medizinisch-ethischen Fragen auf ein Menschenbild beruft, das seine Wurzeln in den Jahrtausende alten Legenden eines einst in der Wüste lebenden Hirtenvolkes hat, wird in immer größere Abwehrkämpfe geraten und sein Heil letztlich immer nur in Verboten und mehr oder weniger willkürlichen Einschränkungen sehen. Ausschlaggebende und hilfreiche Argumente in solchen Entscheidungssituationen sind für mich die Antworten auf die Leitfragen: Wem nützt es? Wem schadet es? Wie kann Wohlbefinden, Gesundheit, Glück vermehrt, wie kann Leid verhindert werden? Warum einem schwerbehinderten, zukünftig lebenslang leidenden Menschen nicht schon vor seiner Geburt die Gnade der Nichtexistenz gewähren? Ist es mit christlicher Barmherzigkeit zu vereinbaren, einen schwerstleidenden Menschen der Folter unsäglicher, nicht zu stillender Schmerzen bis zum natürlichen Tod auszuliefern?
Ich sehe das Leben mit gedanklich erzeugten religiösen Konstrukten, die das Verhalten der Menschen lenken, als eine – einst vermutlich vorteilhafte – evolutionäre Phase der Menschheit an, die langsam abgelöst wird durch eine evolutionär sich weiter entwickelnde Wissenschaft und Philosophie vom Menschen. Am Horizont zeichnen sich Lebenskonzepte ab, die ohne einen imaginierten Übervater auskommen und die sich auf die im Menschen schlummernden Kräfte besinnen. Trotz des augenblicklich zu beobachtenden Rückfalls in die alten Illusionssysteme – was als ein letztes Aufbäumen eines alten Denkens zu interpretieren ist – dürfte feststehen, dass die Zeit dieser alten Glaubenssysteme sich dem Ende zuneigt. Dennoch muss wohl mit einem noch viele Jahrzehnte dauernden Kampf zwischen Vernunft und Glauben, zwischen realitätsbezogenem und illusionsgesteuertem Denken gerechnet werden.
Denn weltlicher Humanismus sieht sich umstellt von religiösen – christlichen, jüdischen und verstärkt in letzter Zeit islamischen – Kräften, die versuchen, mit politischen, juristischen, pädagogischen und medialen Mitteln die Entfaltung einer alternativen Weltanschauung zu behindern, wenn nicht zu verhindern. Diese weltanschaulichen Konflikte gefährden in einer zunehmend multiweltanschaulichen Gesellschaft den sozialen Frieden. Die Lösung kann vorerst nur in einer laizistischen Gesellschaftsordnung bestehen, das heißt, in einer konsequenten Trennung von Staat und Religion und in einer an der Erfahrung orientierten und konkreter definierten Religionsfreiheit.
Zu den Ergebnissen der erwähnten EMNID-Umfrage siehe auch: "Drei Viertel der BerlinerInnen mit humanistischer Lebensauffassung"
49 Kommentare
Kommentare
Klarsicht am Permanenter Link
„Das Prinzip der Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens gilt auch für Gottessöhne, solange man behauptet, dass sie menschlich sind.
Nach christlicher Lehre ist aber das menschliche Leben unverfügbar, weshalb ja auch Eingriffe wie Abtreibung oder Präimplantationsdiagnostik grundsätzlich abgelehnt werden und es für einen Christen nicht erlaubt sein kann, menschliches Leben zu erzeugen, um es als eine Art von Ersatzteillager einzusetzen. Wenn also kein Mensch gezeugt werden darf, um durch das spätere Entnehmen von Organen oder auch nur von bestimmten Zellen das Leben anderer Menschen zu retten, dann sollte es auch verboten sein, einen Menschen zu zeugen, dessen Existenz darauf ausgerichtet ist, zur Rettung der Menschheit gewaltsam beendet zu werden. Das Prinzip der Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens gilt auch für Gottessöhne, solange man behauptet, dass sie menschlich sind.“
Quelle (S. 39): http://www.gkpn.de/Riessinger_Paepstliche-Reinigung.pdf
Gruß von
Klarsicht
Hans Trutnau am Permanenter Link
Meine schlichte Antwort: NICHTS (wie es ja auch im Text anklingt).
Uwe Lehnert am Permanenter Link
Hans, Du vergisst, dass Zeitungen anderen Regeln folgen. Da muss eine Überschrift in erster Linie Aufmerksamkeit erregen. Ob sie den zu berichtenden Sachverhalt trifft, ist nicht so wichtig.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Schon klar, lieber Uwe, dass das für den TS ein clickbait war. Wäre hier im hpd aber nicht nötig gewesen.
Thomas am Permanenter Link
"Meine schlichte Antwort: NICHTS"
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Hans Trutnau am Permanenter Link
Ein für alle Mal - ich glaube [in dem hier eindeutig konnotierten (religiösen!) Sinn] NICHTS. Damit das jetzt auch dem letzten Klugscheißer klar ist.
Thomas am Permanenter Link
Was Sie MEINEN, hätte keiner "Klarstellung" bedurft.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Er begreift es nicht.
Aber Wissen als Voraussetzung von Glauben behaupten.
Wirr.
Thomas am Permanenter Link
"Er begreift es nicht."
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Dito.
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"Aber Wissen als Voraussetzung von Glauben behaupten."
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Ganz recht.
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"Wirr."
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Andreas Theis am Permanenter Link
Herr Lehnert spricht mir aus dem Herzen. Der Artikel ist ein wertvoller weiterer Beitrag zur Darstellung unserer humanistischen Position. Danke dafür!
dr.hans gerd oelsner am Permanenter Link
jaa richtig ...seitens der 3 Gewaltenklasse
und auch sonst werden wir Humanistischen Realisten wie "Unberührbare" behandelt ...aber
zum Zahlen via allgemeiner Steuern....
zwingt man uns....
Roland Weber am Permanenter Link
Der Beitrag ist sicherlich lesenswert und bringt humanistische Anschauungen auf den Punkt.
„Was Christen oder Muslime glauben, das ist in groben Zügen so ziemlich jedem geläufig“. Lehnert richtet diese Aussage wohl an humanistisch Gesinnte und geht offenbar davon aus, dass Christen und Muslime selbst wüssten, was sie glauben. In der Regel glauben sie aber nur zu glauben, was sie glauben. Man würde sich gewiss wundern, was Christen und Muslime tatsächlich glauben. Bei Christen ist dies in aller Regel ein recht oberflächliches Wissen und ein doch mehr oder weniger persönlich gefärbtes und recht banales Glauben. Würden die Kirchen einen „Glaubens-TÜV“ durchführen, müssten sie wohl den größten Teil ihrer Gläubigen aus ihrer Kirche ausschließen, weil selbst Christen eben vieles gar nicht glauben. Doch das nimmt man stillschweigend hin. Das Etikett ist sowohl für die Kirchen als auch die Gläubigen aus ganz unterschiedlichen Gründen wichtig. Dies gilt vor allem für den durch-dogmatisierten Katholiszismus. Von den meisten Dogmen dürften die Gläubigen nicht einmal etwas wissen, geschweige denn, diesen klerikalen Selbsterhöhungswahn als Glaubensinhalt wahrnehmen. So mag es eben auch nicht verwundern, wenn „vom christlich-jüdischen Abendland“ daherschwadroniert wird, und man nicht einmal merkt, dass man einzig humanistisch gewonnenen Erkenntnisse und Einstellungen damit hochhält und besser Christliches erst gar nicht anführt.
Uwe Lehnert am Permanenter Link
Roland Weber, ich stimme Ihnen in Ihrer Anmerkung völlig zu. In der Tat wissen meist Ungläubige über Religion mehr als Gläubige über ihre eigene.
Roland Weber am Permanenter Link
Sehr geehrter Herr Lehnert, ich habe noch überlegt, ob ich einen Hinweis auf Ihr Buch anbringen soll, aber dies erschien mir dann zu weitschweifig.
Klaus Bernd am Permanenter Link
Ja selbst bei den Päpsten scheint es nicht weit her zu sein mit dem Glauben an die eigenen Dogmen.
Heiner E aus K am Permanenter Link
Ein sehr schöner, ausführlicher, zutreffender Essay. Eine gute Zusammenfassung. Danke.
Ulf Dunkel am Permanenter Link
Sehr interessanter, lesenswerter Beitrag.
Jeder Mensch hat das Recht, zu glauben oder eben nicht zu glauben, was er/sie will - solange Rechte anderer dadurch nicht eingeschränkt werden.
Manfred Hahl am Permanenter Link
Ein ausgezeichneter Aufsatz zur Begründung und zum Anspruch des weltlichen Humanismus und zu seiner derzeit noch immer weit verbreiteten, möglicherweise angstgestörten Nicht- und Fehlwahrnehmung durch Medien, Kirchen
Wolfgang am Permanenter Link
Nichtchristen sind Ketzer! Ganz einfach wird so etwas verbreitet und die überwiegenden Gläubigen glauben das auch!
Ludwig Feuerbach
Roland Fakler am Permanenter Link
Wenn sich Humanisten nicht einmischen oder nicht gehört werde, werden die Jenseitsgläubigen das Diesseits beherrschen – und das ist nicht gut für die Erde und für die Menschen.
Kay Krause am Permanenter Link
Ein ausgezeichneter Artikel, der mir aus der (möglicherweise vorhandenen) Seele spricht.
Vielen Dank dafür!
Wie so oft oder gar meist in Diskussionen über das Thema "Glauben" ist auch hier pauschal die Rede vom "Glauben". Selbstverständlich "glauben" wir alle etwas. Der Christ glaubt ebenso wie der Atheist, dass die Entfernung von der Erde zum Mond runde 380.000 km beträgt, oder auch jede andere wissenschaftliche Erkenntnis, die wir selbst gar nicht nachprüfen können. Ich glaube auch daran, dass mein Nachbar ein anständiger Kerl ist, da er sich zumindest mir gegenüber immer anständig verhalten hat. Von morgens bis abends ist unser Leben mit "Glauben" angefüllt. Aber das hat doch alles nichts mit "religiösem Glauben" zu tun! Wenn ich also von vornherein in meiner Wortwahl strikt unterscheide zwischen "Glauben" und "religiösem Glauben", dann muß ich den religiös geprägten Gesprächspartner, der behauptet, auch ich als Atheist hätte ja einen Glauben, gar nicht ernst nehmen. Wenn wir also in Schrift und Sprachgebrauch klar und eindeutig formulieren, worüber wir sprechen, dann wäre vielleicht so mancher Disput von vornherein überflüssig.
Uwe Lehnert am Permanenter Link
Kay Krause, Sie haben völlig Recht, die Verwendung des Begriffs »Glauben/glauben« müsste hinsichtlich seiner schillernden Bedeutung differenzierter verwendet werden.
Noncredist am Permanenter Link
Ein schöner Text. Daumen hoch und sehr repräsentativ für unsere Position.
>> Bischof Markus Dröge war pikiert und empfand (..) als "Entwertung des christlichen Glaubens". <<
Ich bezweifle ernsthaft, dass der "Wert" des "christlichen Glaubens" an der Anzahl der freien Schultage eines Schülers gemessen werden soll, wie Herr Dröge es hier amüsanterweise andeutet. Weiter gesponnen dürfte es dann logisch sein, dass der christliche Glaube wert(e)los sei, wenn 100% der Schüler aus "nichtchristlichen" Gründen Schulfrei hätten ;)
Der Wert des "chr. Glaubens" bleibt unangetastet. Der Bischof wollte sich nur aufregen, dass auch Nichtchristen aus Gründen, die keinen Yahwe-Gott beinhalten, den Tag genauso frei bekommen. Tja, sein Pech :)
@Kay Krause:
>> Wenn ich also von vornherein in meiner Wortwahl strikt unterscheide zwischen "Glauben" und "religiösem Glauben", dann muß ich den religiös geprägten Gesprächspartner, der behauptet, auch ich als Atheist hätte ja einen Glauben, gar nicht ernst nehmen. <<
Kann ich nur unterschreiben! Leider unterscheiden nahezu sämtliche Berufsgläubige (von Berufswegen her?) nicht zwischen der "Vermutung, aus der Erfahrung heraus", und dem "Glauben, auch entgegen den Fakten".
Der "Glaube", der Mond sei 380.000 km entfernt, speist sich aus der Erkenntnis über Mondforschern, Messgeräten, Messmethoden, Überprüfungen, Berechnungen und weiteren hinterfragbaren und falsifizierbaren Details. Wir schätzen, dass unsere Erkenntnis ausreich, die Behauptung von 380.000 km auszudrücken. Sie mag zwar nicht auf den Millimeter genau sein, reicht aber zur weiteren Bearbeitung gut aus und ist stets korrigierbar und belegbar.
Beim religiösem Glaube hingegen spielen Fakten bekanntlich keine(!) Rolle. Sie könnten im schlimmsten Falle einfach "Fake News" von Satan persönlich sein ;)
Man bleibt ganz "bei der Schrift". Ob es die Bibel, der Koran, Narnia oder Mormon ist. Alles weitere muss sich daran messen lassen und was nicht passt, wird entweder passend gemacht, oder zur Seite geschoben. Ist irgendwie der Plan Gottes und unser Hirn sei aus magischen Gründen nicht fähig, dies zu "erkennen". Weshalb man plötzlich den Plan Gottes hinter alles vermuten kann, obwohl man gerade diesen Plan nicht erkennen kann, bleibt unbeantortet. Ein "Mysterium" eben. Muss man eben "glauben", wie es aus dem Munde des Berufsgläubigen kommt, auch wenn keinerlei evidente Fakten abseits des Buches (Bibel, Koran, Mormon, Narnia, ...) existieren, die diese "Behauptung" stützen.
Und so kommen leider weiterhin die Behauptungen, wir "Ungläubige" glauben dennoch an "die Wissenschaft" o.ä.
Der Unterschied ist jedoch, dass sich dieser "Glaube" (genauer: Vermutung) stets hinterfragen, erforschen und korrigieren lassen kann. Dies ist der Grund, weshalb wir heute mit digitalen Medien zu tun haben, Satelliten um diesen Globus kreisen und Ärzte erprobte Medikamente verschreiben. Und weshalb Gläubige "nicht verstehen", weshalb Andersgläubige aus der selben monotheistischen Religion es für "richtig" halten, Gläubige zu verfolgen und zu ermorden.
Die einen *dürfen* hinterfragen, ja sie werden dazu ermutigt und belohnt, wenn sie Thesen und Theorien festigen/widerlegen. Den Anderen hingegen erwartet der Tod oder die Ausgrenzung, wenn sie diesen Weg einschreiten.
AHumanBeing am Permanenter Link
Anregender Artikel. Aber als Humanistin finde ich mich dort nicht repräsentiert.
Uwe Lehnert am Permanenter Link
AHumanBeing, Sie finden es also in Ordnung, dass in den Rundfunk- und Fernsehanstalten, und nicht nur in den öffentlich-rechtlichen, nur die Kirchen eigene Redaktionen und feste Sendezeiten beanspruchen dürfen?
Die Patientenverfügungen in ihrer jetzigen Form mit der Möglichkeit für den Patienten, weitreichende Vorgaben festzulegen, haben Sie hauptsächlich den Organisationen Humanistischer Verband Deutschland (HVD) und Giordano-Bruno-Stiftung (gbs) zu verdanken. Vor Jahrzehnten haben sich Frauen organisiert, sich mutig bekannt und schließlich die Möglichkeit zum Schwangerschaftsabbruch in medizinisch oder sozial indizierten Fällen durchgesetzt – prinzipiell auch für Sie! Das aktuell gültige Sterbehilfegesetz wäre noch schändlicher ausgefallen als jetzt – es ist m.E. aufgrund der Verletzung des Rechtes auf Selbstbestimmung verfassungswidrig – hätten nicht organisierte säkulare Humanisten ein noch weitergehendes Verbot verhindert. Aktuell sind Klagen m.W. seitens der gbs beim Bundesverfassungsgericht anhängig. Das unselige Gesetz, das die Körperverletzung in Form der sog. Beschneidung an wehrlosen Jungen billigt, ist vor allem von den organisierten Humanisten, hier besonders von Mitgliedern der Giordano Bruno Stiftung angeprangert worden und wird weiterhin strikt als verfassungswidrig betrachtet. Nur Beispiele!
Wie schön für Sie – Sie können sich bequem zurücklehnen und von den Aktivitäten anderer, und zwar organisierter säkularer Humanisten profitieren.
Gondel am Permanenter Link
Liebe AHumanBeing,
wenn vor 72 Jahren die Alliierten nicht obsiegt hätten, wäre auch das Judenverbrennen Teil unserer Kultur ...
Thomas am Permanenter Link
Ein weiteres Mal zeigt sich, daß "der Humanismus" nach wie vor eine zutiefst speziesistische Angelegenheit ist, denn auch Herrn Lehnert ist es keine Bemerkung wert, daß nicht nur Menschen, sondern auch Billi
Uwe Lehnert am Permanenter Link
Sehr geehrter Thomas, bitte bedenken Sie, dass man bei einem Zeitungsartikel um jedes Wort ringen muss, um den Text nicht zu lang werden zu lassen.
Aber davon abgesehen ist Ihre Auffassung in zwei Punkten zu kritisieren. Nicht alles, was man in einem Beitrag oder Statement nicht erwähnt, wird deshalb vom Autor als unwichtig oder gar überflüssig angesehen. Das unselige, mittelalterliche Schächten wird gerade auch von Humanisten vehement abgelehnt. Aber Sie wissen selbst, welchen hohen Rang in unserer Politik die Religionen, und seien sie noch so bronzezeitlich basiert, einnehmen. Von daher sind derzeit alle Bemühungen, dem Tierschutz in diesem Punkt mehr Geltung zu verschaffen, ziemlich aussichtslos. Einen zweiten Punkt möchte ich kritisieren. Muss man denn in allen Punkten mit einer Organisation einverstanden sein, um sich ihr verbunden zu fühlen? Ist es denn nicht sinnvoll, eine Organisation zu unterstützen, deren Ziele man grundsätzlich gutheißt, auch wenn ein oder zwei einem selbst wichtige Punkte nicht explizit verfolgt werden? Es gibt ja Organisationen bzw. Vereine, die sich explizit dem Tierwohl widmen. Übrigens sowohl die Giordano-Bruno-Stiftung als auch der Humanistische Verband thematisieren die Leidensfähigkeit auch der Tiere und rufen nachdrücklich dazu auf, in ihnen ebenfalls schmerzfühlende Wesen zu sehen.
Thomas am Permanenter Link
Sehr geehrter Herr Lehnert, die wort- oder gar buchstabenökonomischen Zwänge des Publizierens sind mir durchaus nicht fremd.
Frank Nicolai am Permanenter Link
Ich mische mich einmal kurz in die Diskussion ein:
Lieber Thomas, wenn Sie den hpd lesen werden Sie sehen, dass wir uns - und das im Namen des Humanismus - sehr wohl für die Rechte der Tiere einsetzen. Dem Humanismus und den Humanisten per se Karnismus zu unterstellen ist unredlich.
Junius am Permanenter Link
Soll das im Umkehrschluß heißen, daß Fleischesser sich nicht Humanisten nennen sollten? Wäre ja interessant zu wissen.
Thomas am Permanenter Link
"Dem Humanismus und den Humanisten per se Karnismus zu unterstellen ist unredlich."
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Junius am Permanenter Link
Also wollen wir mal Schlagworte austauschen: Leben ist (auch) Leiden. Das allgemeines Ziel der Leidvermeidung bedeutet also Leben zu vermeiden.
Thomas am Permanenter Link
"Leben ist (auch) Leiden."
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Richtig, neben vermeidbarem gibt es auch unvermeidbares Leid - banal.
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Menschen brauchen Ethik, weil sie möglichst leidfrei LEBEN wollen. In der Ethik geht es also um Leidvermeidung, die mit dem Leben vereinbar ist.
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"Was den Antispezizismus betrifft: Menschen sind keine Elefanten, Ameisen oder Bäume."
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Offenbar und unbegreiflicherweise haben Sie den Speziesismus vollkommen mißverstanden. Er bedeutet, Tiere nur aufgrund unterschiedlicher Spezieszugehörigkeiten ungleich zu behandeln und keine Rücksicht auf ihre konkreten Eigenschaften zu nehmen (also z.B. Schweine zu quälen, obwohl sie nicht weniger leidensfähig als z.B. menschliche Säuglinge sind). Er ist eine Subkategorie des Faschismus und hat strukturelle Entsprechungen in Rassismus, Xenophobie, Sexismus, Klassismus, Homophobie, Antisemitismus, etc.. Es ist von höchster ethischer Dringlichkeit, ALL diese Gedankensysteme mitsamt den aus ihnen hervorgehenden Verhaltensweisen zu überwinden, und zwar nach Möglichkeit rückstandslos!
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"Menschen können nicht davon absehen, Menschen zu sein. Was bleibt, ist Einbildung,"
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Keineswegs. Empfindungsfähigkeit hat physische Voraussetzungen. Die Neurobiologie erforscht sie und ist auch schon zu einigen Ergebnissen gekommen, die moralische Menschen in ihrem Verhalten berücksichtigen können und müssen.
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"und angesichts von 7,5 Mrd. Menschen, die diesen Planeten bevölkern, beackern, planieren und umgestalten, eine ziemlich übergriffige noch dazu."
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Niemand zwingt uns zu einem dermaßen zerstörerischen Umgang mit unserem Lebensraum. Nachhaltige(re) und rücksichtsvolle(re) Lebensführung ist möglich, und jeder Einzelne von uns könnte sofort damit anfangen.
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"Zu glauben, man kenne die Interessen der nichtmenschlichen Natur, und Leidvermeidung sei das wesentliche davon, ist willkürlich im höchsten Maße."
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Durchaus nicht. Überall in der Natur läßt sich beobachten, daß Tiere Leidenszustände meiden und angenehme Empfindungen suchen (z.B. essen und trinken gegen Hunger und Durst, sicherer Unterschlupf und Körperkontakt gegen Angst und Streß, Flucht gegen Schmerz etc.). Wann immer wir wissen oder plausiblerweise davon ausgehen dürfen, daß unser Verhalten die Leidensfähigkeiten anderer Tiere tangiert, müssen wir das ethisch berücksichtigen. Anderenfalls wären wir nicht berechtigt, eigene Interessenverletzungen zu beanstanden.
Zum zwingenden Charakter der Ethik habe ich mich schon Anfang des Jahres klärend geäußert: http://tr63.alfahosting.org/f/at.htm
Junius am Permanenter Link
Nein, Leidvermeidung läßt sich nicht überall in der Natur beobachten, jedenfalls nicht als grundlegendes Prinzip. Im Gegenteil.
Wenn es überhaupt eine Art „Prinzip“ hinter dem Leben in dieser Welt gibt, dann ist es das Überleben-wollen, und zwar nicht individuell (die Lachse, die zu ihren Laichplätzen zurückschwimmen, sind hinterher tot), sondern als jeweilige Art. Wenn also ein Prinzip, dann nicht „Leidvermeidung“, sondern „Arterhaltung“. Aber auch hier gilt: Aus dem „Sein“ ergibt sich kein „Sollen“, und schon gar nicht „zwingend“. Und damit zum letzten Punkt: es gibt keine Letztbegründung, schon gar nicht im Bereich der Ethik (deswegen gibt’s ja auch so viele verschiedene). Sie mögen eine bestimmte Ethik bevorzugen; zwingend ist daran gar nichts.
Uwe Lehnert am Permanenter Link
Junius, zu Ihrem letzten Punkt:
Natürlich haben Sie Recht, eine Letztbegründung im Bereich der Moral bzw. Ethik gibt es nach unserem derzeitigen philosophischem Denken nicht. Ich sage ja nur, dass es aufgrund der evolutionären Herausbildung von überlebensbegünstigenden Verhaltensweisen, aus denen sich letztlich unsere Moral bzw. Ethik herausgebildet haben, offenbar »Berührungspunkte« von Sein und Sollen gibt.
Folgende Überlegung zeigt, dass es gleichsam »Brücken« zwischen dem Sein und dem Sollen geben könnte. Wenn man bei einer Gesellschaft z.B. nachweisen könnte, dass nur ein bestimmtes Moralsystem, also ein Satz von ethischen Prinzipien, Regeln und vielleicht Zielsetzungen, gemeint im Sinne von überlebensbegünstigendem Verhalten, deren Überleben ermöglicht, dann wären faktisch dieses Moralsystem bzw. diese Sollwerte empirisch legitimiert, weil als einziges Normensystem das Überleben ermöglichend. Die Letztbegründung wäre i.d.F. also: ermöglicht Überleben.
Vielleicht – ich sage ausdrücklich: vielleicht – ist es das derzeitige Konzept der Philosophie bzw. deren sprachliche Begrifflichkeiten, die diese strikte Trennung zwischen dem Sein und dem Sollen herstellen – für die es ja in der Tat gute Gründe gibt – uns daran hindern, hier die »wahren« Zusammenhänge zu erkennen.
Junius am Permanenter Link
Wir haben da, so denke ich, ein grundsätzliches Problem (gewissermaßen ein prinzipielles, man verzeihe das Wortspiel), eine Ethik auf ein Prinzip gründen zu wollen.
Ethik ist nun der Versuch, das was wir als Moral entwickelt haben und empfinden, zu systematisieren, so wie Gesetze versuchen, Regeln für unser Verhalten aufzustellen. Und so wie Gesetze nach kurzer Zeit dazu neigen, immer neue Ausnahmetatbestände aufzunehmen, so stellt man immer wieder fest, daß Moral sich nicht vollständig systematisieren läßt. Das wäre an sich nicht schlimm. Man hat halt ethischen Prinzipien und weiß, daß die konkrete Moral in jedem einzelnen Fall eine Frage der Abwägung ist.
Leider hat sich die Vorstellung entwickelt, nur das sei moralisch, was sich aus einer wie auch immer begründeten Ethik ableiten ließe, sei diese Begründung nun religiös oder philosophisch. Nach diesem Stein der Weisen, diesem einen einzigen Prinzip, aus dem sich alle Ethik und Moral ableiten ließe, suchen zB Leute wie Singer, und das Ergebnis ist entsprechend. Und weil das so ist, greift auch eine Kritik, die sich nur an einzelnen Prinzipien oder an unmoralischen Konsequenzen einer solchen Ethik festmacht, zu kurz. Die Idee an sich ist falsch, Verhaltensstandards philosophisch ableiten zu können aus einem zugrundeliegenden Prinzip.
Ethische Prinzipien sind wichtig, wo sie der Versuch sind, unsere moralischen Maßstäbe zu systematisieren. Die Menschenrechte sind ein gutes und wichtiges Beispiel dafür, nur muß man sich bewußt sein, daß Systematisierung immer auch Vereinfachung heißt. Daher ist und muß das konkrete Verhalten jedes einzelnen das Ergebnis gesellschaftlicher Entwicklung sein, vorsichtig korrigiert aufgrund von Erfahrungen. Unser Leben ist zu kompliziert, und wir verstehen es noch viel zu wenig, um es nach Prinzipien allein auszurichten.
Es kommt aber, so denke ich, noch ein Problem hinzu. Was ist „überlebensbegünstigendes Verhalten“? Ich nehme mal ein etwas extremes Beispiel: In Nordkorea gibt es für die vielen einfachen Menschen ein Set von Verhaltensnormen, wenn sie überleben wollen. Die koreanische Gesellschaft existiert damit immerhin schon einige Jahrzehnte. Und das ist nur ein Beispiel einer relativ stabilen Gesellschaft, die auf einem extremen Machtgefälle, und damit verbundener gewalttätiger Unterdrückung und Ausbeutung der Mehrzahl ihrer Menschen beruht. Das meinte ich, wenn sich schrieb, daß aus dem Sein einer „funktionierenden“ Gesellschaft noch lange kein Sollen resultiert, zumindest aus meiner Sicht kein wünschbares.
Mein Fazit daher: Zwar gibt es ganz unterschiedliche Sätze von ethischen Prinzipien. Die Philosophen waren da durchaus fleißig. Nur konnten sie sich durchaus nicht auf einen „wahren“ Satz einigen, ich würde sagen, weil es den nicht gibt, und zwar aus zwei Gründen: einmal, weil sich unsere Verhaltensstandards eben grundsätzlich nicht aus einem Satz von Prinzipien ableiten lassen. So funktioniert das Verhalten von Menschen nun einmal nicht. Und zum zweiten, weil es so etwas wie die „absolute Wahrheit“ nicht gibt. Aber das ist ein anderes Thema.
Uwe Lehnert am Permanenter Link
Die Diskussion um die Begründung von Moral hat bei Ihnen und Thomas einen Umfang angenommen, der über die Intention meines Artikels weit hinausgeht. Darauf bin ich ja gar nicht näher eingegangen.
Eine wesentliche Grundlage einer naturalistisch-humanistischen Weltanschauung bilden die Einsichten der heutigen Naturwissenschaften. Vor allem die Evolutionstheorie hat sich in vielen Bereichen als ein fruchtbares Erklärungsprinzip erwiesen.
Die Soziobiologie kann inzwischen zeigen, dass Moral keineswegs göttlichen Ursprungs ist, sondern sich evolutionär entwickelt hat. Sie hat zwei Wurzeln: die Kooperation und die Empathie. Und sie kann zeigen, dass sie in dieser Form zunächst einen Überlebensvorteil darstellte. Denn eine zusammenlebende Gruppe von Tieren hat mehr Erfolg und damit eine höhere Überlebenschance, wenn sie gemeinsam jagt und gemeinsam Feinde abwehrt. Wenn sie also kooperiert. Beobachten kann man solches Verhalten sehr gut z.B. bei höheren Säugetieren, wie Löwen, Wölfen oder z.B. Hyänen. Sie jagen gemeinsam und wehren gemeinsam Feinde ab.
Empathie ist die zweite Wurzel der Moral. Empathie meint, dass ich mich in den anderen hineindenken kann und damit Mitgefühl für ihn entwickele und zum Beispiel dem in Not befindlichen Stammesangehörigen helfe. Sei es, dass ich ihm beistehe, wieder aus einem Sumpfloch zu entkommen oder dass ich ihm in der Not an meinem Futter teilhaben lasse. Auch da gibt es eindrucksvolle Beispiele, wie sich höhere Säugetiere gegenseitig helfen.
Mit Moral in dem Sinne, wie wir moralisches Verhalten heute verstehen, hatte das zunächst noch wenig zu tun. Es handelte sich um Verhaltensweisen, die dem gemeinsamen Überleben dienlich waren. Im Laufe der Evolution entstanden daraus nach und nach schließlich Normen und Regeln sozialen Verhaltens (innerhalb einer Gruppe, Stammes, Religionsgemeinschaft, …), etwas, was wir heute schließlich Moral nennen (Stichworte: Leidvermeidung, Friedlichkeit, Solidarität). Und ganz neben bei bemerkt: Die Befolgung dieser Kernelemente von »Moral« liegt im gegenseitigen Interesse der Beteiligten. Zur Durchsetzung einer solchen Moral bedarf es daher weder der Verheißung himmlischer Freuden noch der Androhung höllischer Bestrafung!
Daher meine ich, vermuten zu dürfen, dass es – entgegen aller philosophischer Apodiktik – zumindest Berührungspunkte zwischen dem Sein und dem Sollen geben könnte. (Siehe meine obige Antwort vom 30. Okt., 20:02 Uhr!)
Thomas am Permanenter Link
Ich fasse mal rasch zusammen: Moral ist das Mehrheitsverhalten einer Gesellschaft - egal, worin es besteht.
"Als chinesischer Moralist würden sie Hunde essen, als Tuareg Kühe für das Frühstücksgetränk ausbluten und als Hindu heilig erklären."
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"...und als nazistischer "Moralist" bringt man halt Juden, Behinderte, Homosexuelle und Kommunisten (also ebenso willkürlich bestimmte Teilmengen aller leidensfähigen Wesen) um??? Es ist genau dieses grundfalsche und in seinen offensichtlichen Implikationen apokalyptische Ethik-"Verständnis", dem ich mich entgegenstelle, denn es ermöglicht, selbst grausamste Handlungen oder Unterlassungen als "moralisch" zu bezeichnen und führt so zu einer Sinnentleerung der Begriffe Ethik und Moral. Indem Sie es sich zueigen machen, fallen Sie weit hinter das zurück, was selbst philosophisch ungebildete Menschen mindestens intuitiv und ansatzweise erfaßt haben, nämlich daß sich ethische Beurteilungen auf den leiderzeugenden oder leidvermeidenden Charakter menschlichen Verhaltens beziehen. Ethik braucht einen konkreten Zweck, dem sich möglichst alle rationalen Wesen verschreiben können müssen, damit sie ihre Wirkung voll entfalten kann, und dieser Zweck ist die Leidvermeidung. Er entspricht dem zentralen Interesse aller empfindungsfähigen Wesen an einem möglichst leidfreien Leben und relativiert alle übrigen normativen Ansprüche."
Thomas am Permanenter Link
"eine Letztbegründung im Bereich der Moral bzw. Ethik gibt es nach unserem derzeitigen philosophischem Denken nicht."
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"Die Letztbegründung wäre i.d.F. also: ermöglicht Überleben."
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Problem 1: Überleben an sich ist auch in schweren vermeidbaren Leidenszuständen möglich. Problem 2: Aus dem Überlebensinteresse lassen sich keine Antworten auf Fragen der Leiderzeugung und Leidvermeidung deduzieren. Das Interesse, nicht zu leiden, ist also dem Interesse am Überleben vorgeordnet. Das wird besonders deutlich, wenn Menschen sterben wollen, weil ein hinreichend leidfreies Leben nicht mehr möglich ist.
Thomas am Permanenter Link
Schade, daß Sie meine Gedanken (besonders jene auf der verlinkten Seite) noch nicht erfaßt haben.
Ethik ist tatsächlich insofern zwingend, als jedes rationale Wesen über sein eigenes Interesse an einem möglichst leidfreien Leben dazu verpflichtet ist, sich auch allen anderen empfindungsfähigen Wesen gegenüber leidvermeidend zu verhalten, denn sonst wäre es nicht berechtigt, zwanglose Interessenverletzungen zu beanstanden - seien es eigene oder fremde. Es dürfte wohl niemand bereit sein, auf Kritik an menschlichem Verhalten und vermeidbaren Mißständen zu verzichten. Um eine ethische Entwicklung anzustoßen, braucht mensch sich also "nur" noch der eigenen Interessen und ihrer Gewichte detailliert bewußt zu werden und eine Verhaltenskontrolle aufzubauen, die dem leidvermeidenden Ausgleich eigener und fremder Interessen nach dem Gleichheitsprinzip dient. Denkanregungen zur ethischen Praxis auf https://effektiveraltruismus.de und https://ea-stiftung.org.
Der Widerstand gewisser ZeitgenossInnen gegen pathozentristische Ethikvorstellungen ist auch insofern unverständlich, als man nur wenig Phantasie braucht, um sich vorzustellen, was für ein Ort die Erde wäre, wenn sich die Menschen konsequent um fairen Interessenausgleich auf Grundlage der gleichen Berücksichtigung gleicher Interessen vor dem Hintergrund der jeweils mit ihnen verbundenen Leidensfähigkeiten bemühten. Keine Armut, kaum noch Morde und noch weniger Terrorismus, keine Kriege, bedeutend weniger Leiden und Sterben an behandelbaren Krankheiten, keine fortschreitende und irreversible Umweltzerstörung, so gut wie keine Mißhandlungen, viel weniger sexueller Mißbrauch, keine Massentierhaltung, keine Schlachthäuser... - man muß schon extrem gedankenlos oder aber ein empathiebefreites Arschloch sein, um die meisten oder gar alle ethischen Nah- und Fernziele den eigenen Privilegien und Bequemlichkeiten unterzuordnen. Wer mangels ethischer Erziehung kein oder nur ein rudimentäres Verantwortungsbewußtsein besitzt und daran auch nichts ändern will, weil vorerst keine negativen Konsequenzen drohen, dürfte in den meisten Fällen für den ethischen Fortschritt verloren sein. Nicht zuletzt deshalb ist es dringend notwendig, Kinder frühestmöglich in die Ethik einzuweisen und sie zu lehren, wie man leiderzeugende Sachverhalte in ihren Kontexten erkennt und zu ihrer Auflösung beiträgt, statt sich ungezwungenerweise durch Tun oder Unterlassen an ihnen (mit)schuldig zu machen.
Uwe Lehnert am Permanenter Link
Thomas: »… man muß schon extrem gedankenlos oder aber ein empathiebefreites Arschloch sein, …«
Das mag Ihrem Diskussionsstil entsprechen, meinem nicht, lieber Herr Thomas.
Thomas am Permanenter Link
Falls es Ihnen entgangen sein sollte und von Belang ist: der betreffende Beitrag war an Junius gerichtet.
Leider haben Sie mich nicht vollständig zitiert, lieber Herr Lehnert. Das pöhse A-Wort erscheint nämlich nicht als plumpe und unbegründete Beschimpfung, sondern in einem Satz, dessen Aussage wohl nur jemand bestreiten kann, der sich zurecht angesprochen fühlt:
"Man muß schon extrem gedankenlos oder aber ein empathiebefreites Arschloch sein, um die meisten oder gar alle ethischen Nah- und Fernziele den eigenen Privilegien und Bequemlichkeiten unterzuordnen."
Das vermeidbare Leid auf der Erde konnte nur deshalb entstehen und kann nur deshalb bestehen bleiben, weil Menschen Interessen und die ihnen zugrundeliegenden Leidensfähigkeiten nach Belieben zur Kenntnis nehmen oder ignorieren und willkürlich berücksichtigen oder mißachten. Die Angehörigen der reicheren Mehrheit der Weltbevölkerung hätten genug materielle Mittel und/oder Know-How, um wirksam gegen all das vorzugehen, was ich in meinem Beitrag vom Donnerstag aufgezählt habe, aber sie tun es nicht, weil das bedeuten würde, Privilegien und Bequemlichkeiten aufzugeben. Bei den meisten von ihnen dürfte dieses Verhalten Ergebnis ethischer oder allgemeiner Gedankenlosigkeit sein, aber es gibt auch etliche Menschen, die genug von dem wissen und haben, was man wissen und haben muß, um aktiv werden zu können, die sich mangels Empathie und sozialen Drucks aber trotzdem für ein Leben in persönlichem Komfort entscheiden. Angesichts des ungeheuren Leides, an dem sie sich auf diese Weise (mit)schuldig machen, erscheint mir die Bezeichnung "Arschloch" als durchaus angemessen. Überhaupt: dies ist nicht das Feuilleton der FAZ. Wir können und sollten uns den "Luxus" leisten, Inhalte über Stilfragen zu stellen.
Um auf meine Humanismuskritik zurückzukommen: man kann ein mindestens mittelgroßes Arschloch im o.g. Sinne sein, weil man nicht annähernd so viel gegen das vermeidbare (menschliche UND NICHTMENSCHLICHE) Leid auf der Erde unternimmt, wie individuell möglich und zumutbar wäre, ohne als Humanist (den meisten) anderen Humanisten gegenüber in Erklärungsnot zu geraten. Im Gegensatz dazu kann man nicht erwarten, als Ethizist, bzw. Moralist ernstgenommen zu werden, ohne seine ethischen Potenziale möglichst weitgehend auszuschöpfen und bereit zu sein, Rechenschaft darüber abzulegen - vor sich selbst sowieso und auch Anderen gegenüber, falls notwendig. Ethik (in Verbindung mit Wissenschaft) ist das "Universalmedikament" gegen (fast?) alle lösbaren Probleme der Welt, der Humanismus bislang nur ein mehr oder weniger beliebig zusammengestelltes Überzeugungssystem mit eher bescheidenem normativem Gehalt.
PS.: "Im Laufe der Evolution entstanden daraus nach und nach schließlich Normen und Regeln sozialen Verhaltens (innerhalb einer Gruppe, Stammes, Religionsgemeinschaft, …), etwas, was wir heute schließlich Moral nennen"
...und das strukturell FASCHISTISCH ist, weil es bestimmte Gruppen leidensfähiger Wesen willkürlich von der Berücksichtigung ihrer Interessen nach dem Gleichheitsprinzip ausschließt. Genau dieses Denken mitsamt dem aus ihm folgenden Verhalten müssen wir überwinden, wenn die Erde nicht der "höllische" Ort für Abermilliarden empfindungsfähiger Wesen bleiben soll, der sie ist.
Marc Mathys am Permanenter Link
Dieser Beitrag ist ausgezeichnet verfasst. Darin wird die Situation analysiert, werden wertvolle Empfehlungen abgegeben und wird ein weiser Schluss gezogen.
Junius am Permanenter Link
Ja, und diese Diskussion hier zeigt sehr schön, warum das nichts werden wird. Weil es DEN Humanismus einfach nicht gibt!
Man berauscht sich daran, daß man 30% der Bevölkerung vertreten (die man allerdings nie gefragt hat, ob sie sich auch vertreten fühlen). Da nimmt man den kleinsten gemeinsamen Nenner, die Nicht-Mitgliedschaft in einem Religionsverein. In den eigenen Vereinen wird dagegen um jeden Halbsatz gerungen, muß jede noch so exzentrische Mode berücksichtigt werden.
Zwar kritisiert man den Wahrheitsanspruch der Religionen, erhebt dann aber flugs einen eigenen, und da es die eine Wahrheit nun mal nicht gibt, gerät man sich darüber, welche es denn nun sein solle, wieder in die Haare. Ich werde den Eindruck nicht los, daß das zu nichts führt.
Hoffmann am Permanenter Link
ein wunderbarer Artikel der sehr gut die Situation beschreibt in der wir uns befinden.
Ehrenfried Wohlfarth am Permanenter Link
Bezüglich dieses Themas frage ich mich immer wieder, wie es in einem "freien" Land zu dieser Allianz von Medien und Poltitik kommen kann. Wo ist die Unabhängigkeit der Medien?
Uwe Lehnert am Permanenter Link
Herr Wohlfarth, meine Antwort:
Die Kirchenvertreter bzw. die ihnen ideologisch sehr Nahestehenden sitzen in allen relevanten gesellschaftlichen und politischen Institutionen und sind dort – für die Öffentlichkeit nicht unmittelbar erkennbar – tonangebend in allen gesellschaftlichen und politischen Fragen. Sie sitzen in den Spitzen aller Parteien, auch der Linken. Die derzeitigen Bundesminister, wie sich jeder überzeugen kann, geben sich alle als überzeugte Christen zu erkennen. Die drei höchsten Staatsämter sind von drei erklärten Christen besetzt. Die Intendanten und Chefredakteure der öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten sind faktisch alle von erklärten Christen besetzt. Das Bundesverfassungsgericht ist bisher immer so zusammengestellt worden, dass faktisch nur Gläubige und erkennbar Kirchennahe dort sitzen (ein einziges Mal ist es passiert, dass ein Nichtgläubiger es dorthin schaffte; im Übrigen: acht Bundesverfassungsrichter haben den höchsten katholischen Orden für Verdienste um die katholische Kirche erhalten!). Besonders viele Kirchenvertreter sitzen in der Ministerialbürokratie, also dort, wo die Bundes- und Landesgesetze mit vorbereitet werden und schließlich ihre endgültige Form erhalten. Und nicht zuletzt: in den Ethikkommissionen sitzen überwiegend Theologen. Und das alles bei nur noch ca. 55 Prozent (formalen!) Kirchenmitgliedern, plus einige wenige gläubige Christen außerhalb der Kirchen. So sieht offenbar wahrhafte Demokratie aus!
ich verweise auf das absolut lesenswerte Buch von Carsten Frerk »Kirchenrepublik Deutschland« (Alibri, 2015), weil überzeugend durch Fakten und gründliche Recherche. Er weist detailliert nach, dass und wie die Lobbyisten der beiden großen Kirchen fest verankert sind im deutschen politischen Betrieb. Sie bilden mit Büros um den Bundestag und die Landtage den mit Abstand größten Lobbyistenapparat, werden aber in der vom damaligen Bundestagspräsidenten Lammert in der offiziellen Liste der Lobbyisten nicht aufgeführt, da sie offiziell nicht als Lobbyisten zählen. So einfach ist das!
Ehrenfried Wohlfarth am Permanenter Link
danke für die ausführliche Antwort. Die vielen kirchennahen Politiker und tonangebenden Leute sind wohl noch ein Resultat der obrigkeitsnahen Kirche der vergangenen Jahrhunderte.