Was glaubt jemand, der nicht glaubt?

Was Christen oder Muslime glauben, das ist in groben Zügen so ziemlich jedem geläufig. Dagegen ist in der Öffentlichkeit so gut wie nichts darüber bekannt, was konfessionsfreie Menschen denken und für "glaubwürdig" halten. Das ist eigentlich erstaunlich, bilden sie doch in Deutschland mehr als ein Drittel der Bevölkerung, in Berlin zum Beispiel stellen sie die übergroße Mehrheit dar.

Eine repräsentative Befragung des Meinungsforschungsinstitut Emnid im Frühjahr 2016 ergab für Berlin, dass sich 61 Prozent der Berliner als konfessionsfrei, 21 Prozent als evangelisch und 9 Prozent als Mitglied der katholischen Kirche bezeichneten. In den restlichen 9 Prozent sind Muslime, Juden und ca. 50 weitere Religionsgemeinschaften enthalten.

Konfessionsfreie vertreten mehrheitlich eine Weltanschauung, die sich bewusst von Religion und einem über Allem stehenden Gott abgrenzt. Eine Minderheit unter ihnen ist zwar aus der Kirche ausgetreten, betrachtet sich aber oft noch in irgendeiner Weise als religiös.

Nichtreligiöse Menschen gibt es offiziell faktisch nicht

Rundfunk und Fernsehen halten sich vornehm zurück, wenn es um die Darstellung des Denkens und Handelns nichtreligiöser Menschen in Deutschland geht. Dabei ist in allen Staatsverträgen, die zwischen jedem Bundesland und den jeweiligen Rundfunk- und Fernsehanstalten geschlossen wurden, ausdrücklich festgeschrieben, dass diese über alle relevanten gesellschaftlichen Gruppierungen und über alle relevanten gesellschaftlichen Ansichten und Meinungen angemessen zu berichten hätten. Aber lediglich die "staatstragenden" Religionen haben Vertreter in den Medienräten. Und von denen verfügen fast nur die christlichen Kirchen über eigene Redaktionen und feste Sendezeiten. Diese besitzen somit trotz aller behaupteten Trennung von Staat und Religion ein staatlich gewährtes Privileg.

Bei den Tages- und Wochenzeitungen sieht es ähnlich aus. Weltanschauliche Fragen, die um die Themen weltlicher Humanismus, Religionskritik, gar Atheismus kreisen, scheinen geradezu tabu zu sein. Angesichts der Vielzahl von religions- und kirchenkritischen Büchern – siehe bei den Internet-Buchversendern, nicht in den Buchhandlungen! – ist es auffällig, dass solche Literatur praktisch nie in den Kultur- und Literaturteilen der Druckmedien erwähnt wird. Ausnahmen bilden allenfalls mal ein Buch eines hochrenommierte Autors wie Richard Dawkins ("Der Gotteswahn") oder ein Interview mit dem säkularen Humanisten Michael Schmidt-Salomon.

Religiöse und die Kirchen betreffende Fragen werden täglich, ausführlich und wie selbstverständlich in Funk und Presse thematisiert. Konfessionsfreie Menschen erheben den Anspruch, mit eben solcher Selbstverständlichkeit weltanschauliche Alternativen zur Religion und Themen, die sich kritisch bis ablehnend mit Religion befassen, öffentlich zu diskutieren. Immerhin betreffen solche Themen mehr als ein Drittel der deutschen Bürger, in den Großstädten mit ihren vielfältigen Bildungsangeboten sogar die Mehrheit. Haben nicht Rundfunk und Fernsehen, aber natürlich auch die Druckmedien, geradezu den – selbst auferlegten – Auftrag, über alles, was von gesellschaftlicher Bedeutung ist, zu berichten? Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 25. März 2014 zum ZDF-Staatsvertrag ausgeführt: "Neben großen, das öffentliche Leben bestimmenden Verbänden müssen untereinander wechselnd auch kleinere Gruppierungen, die nicht ohne weiteres Medienzugang haben, und auch nicht kohärent organisierte Perspektiven (in den Aufsichtsgremien; U.L.) abgebildet werden." Die Ausführungen bezogen sich zwar auf die Ausgestaltung des ZDF-Staatsvertrags, bilden aber erkennbar eine Aussage von allgemeinerer Bedeutung.

Der Artikel erschien zuerst in einer gekürzten Fassung in der Berliner Tageszeitung "Tagesspiegel" . Der Autor hat dem hpd den kompletten Text zur Veröffentlichung überlassen.

Als entschuldigendes Argument wird regelmäßig vorgetragen, dass die Konfessionsfreien nicht repräsentativ organisiert seien, keinen Ansprechpartner hätten und von daher als quasi nicht vorhanden erscheinen. Abgesehen davon, dass Unorganisiertheit kein Argument sein kann für die Missachtung des Rechts auf mediale Berücksichtigung relevanter Bevölkerungsgruppen. In dieser Pauschalität trifft das Argument der nicht existierenden Ansprechpartner ohnehin nicht zu. KORSO ist ein Verbund von acht bundesweiten und einigen weiteren regionalen säkularen Organisationen, in denen konfessionsfreie Menschen sich zusammengeschlossen haben. Eine dieser bundesweit agierenden Organisationen, in der sich nichtreligiöse Menschen zusammengefunden haben, ist zum Beispiel der Humanistische Verband Deutschland (HVD). Der HVD ist in Berlin Träger von über 60 sozialen, kulturellen und pädagogischen Projekten und Einrichtungen. Er hat in Berlin etwa 12000 Mitglieder und rund 1.000 hauptamtliche und über 750 ehrenamtliche Mitarbeiter. Er unterstützt – vergleichbar den Kirchen – Menschen in allen Lebensphasen: von der Schwangerschaft, feierlichen Namensgebung, über die Kindererziehung, Jugendweihe, Jugend- und Bildungsarbeit, bis hin zur Sozialarbeit, Altenpflege und Sterbebegleitung. Derzeit erhalten ca. 60 000 Schüler und Schülerinnen durch Lehrer des Humanistischen Verbandes humanistischen Lebenskundeunterricht, ein fakultativer Weltanschauungsunterricht statt der bisher üblichen religiösen Unterweisung.

Humanistische Vorstellungen sind überraschend weit verbreitet

Über solche umfangreichen Aktivitäten eines betont nichtreligiösen Verbands wenigstens gelegentlich zu berichten, sollte für die Rundfunkhörer, Fernsehzuschauer oder Zeitungsleser nicht interessant sein? Wo doch selbst nebensächliches kirchliches Geschehen oder nur mäßig interessante Äußerungen ihrer Repräsentanten stets Eingang in unsere Medien finden. Bei rund 3 Mill. Berliner Bürgern über 14 Jahre wären das bei etwa 60 Prozent Konfessionsfreien etwa 1,8 Mill. potentielle Interessenten. Das einzige Presseorgan Deutschlands, das regelmäßig und umfassend Nachrichten und Kommentare zu aktuellen Ereignissen bringt, die die deutsche und internationale humanistische Szene betreffen, ist der Humanistische Pressedienst (hpd.de). Mit mehr als 5.000 Klicks pro Tag und mehr als 2 Millionen Seitenaufrufen im Jahr ist dieses Internetportal das wichtigste Online-Medium zu freigeistig-humanistischen Themen im deutschsprachigen Raum.

"Themen wie säkularer Humanismus, Leben ohne Gott, der problematische politische Einfluss der Kirchen, Trennung von Kirche und Staat, Sterbehilfe aus humanistischer Sicht u.v.a.m. werden in der deutschen Medienlandschaft weitgehend gemieden."

Leider zeigt sich auch hier, dass Presse, Rundfunk und Fernsehen Nachrichten aus der säkularen Welt dort offenbar auch nur sehr zurückhaltend, wenn überhaupt abrufen. Themen wie säkularer Humanismus, Leben ohne Gott, der problematische politische Einfluss der Kirchen, Trennung von Kirche und Staat, Sterbehilfe aus humanistischer Sicht u.v.a.m. werden in der deutschen Medienlandschaft weitgehend gemieden. Die Behandlung solcher Themen würde deutlich machen, dass es eine lebendige und aktive humanistische Szene in Deutschland gibt. Das ist politisch augenscheinlich unerwünscht. Daher ist es verständlich, dass in oben erwähnter Emnid-Befragung 54 Prozent der interviewten Berliner sich durch die Medien und die Politik nicht ausreichend über die große Gruppe der Konfessionsfreien informiert fühlen.

Seit 2016 haben in Berlin Schüler mit humanistischer Lebensauffassung am 21. Juni, dem Welthumanistentag, Anspruch auf einen schulfreien Tag. Bischof Markus Dröge war pikiert und empfand diese Gleichbehandlung von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, die übrigens im Grundgesetz festgeschrieben ist, als "Entwertung des christlichen Glaubens". Welcher anmaßende Anspruch seitens einer religiösen Lehre, die in dieser Stadt nur scheinbar noch 30 Prozent ihrer Bürger vertritt, steckt in dieser Aussage!

Dass die Mitgliedschaft in der Kirche in sehr vielen Fällen nur noch ein formale ist, geht ebenfalls aus obiger Umfrage hervor. Diese repräsentative Studie erbrachte hinsichtlich der Einstellung auch der kirchlich organisierten Bürger höchst bemerkenswerte Einsichten und ließ erkennen, wie wenig lebensbestimmend christliche Auffassungen selbst bei Kirchenmitgliedern noch sind. Eine der zu beantwortenden Aussagen lautete: "Ich führe ein selbstbestimmtes Leben, das auf ethischen und moralischen Grundüberzeugungen beruht und frei ist von Religion und Glauben an einen Gott." Überwältigende 74 Prozent der befragten Berliner stimmten mit einer solchen humanistischen Lebensauffassung überein.

85 Prozent der Konfessionsfreien stimmten dieser Aussage zu, aber auch 57 Prozent der Katholiken und 64 Prozent der Protestanten äußerten, ein Leben "frei von Religion und Glauben an einen Gott" zu führen! Und sicher wird für viele gläubige Leser ein weiteres Ergebnis der Umfrage als irritierend empfunden, dass nämlich mit steigendem Bildungsgrad die Zustimmung zu humanistisch-säkularen Lebensauffassungen wächst, das heißt, zu religiösen Ansichten abnimmt. Ein Phänomen, das von allen großen Städten in Deutschland bekannt ist.

Ein säkularer Humanist "glaubt" nicht

Was heutige Humanisten denken, von welchen Wertvorstellungen sie ausgehen, ist besonders unter Gläubigen weithin unbekannt. Allenfalls assoziiert man die Ablehnung von Religion und die Verneinung der Existenz eines Gottes. Verbunden sind diese Auffassungen oft mit der Unterstellung, dass religionslose, erst recht atheistisch eingestellte Menschen keine Moral kennen würden, da sie sich keiner göttlichen Macht gegenüber verpflichtet fühlen. Offenbar gehen diese gläubigen Menschen davon aus, dass moralische Prinzipien, die unser Tun und Unterlassen regeln, nur in Gott verankert sein könnten. Tatsächlich kann die noch junge Soziobiologie zeigen, dass auch Moral sich evolutionär entwickelt hat. Denn wie anders ist es zum Beispiel zu erklären, dass die Kernsätze der Zehn Gebote weltweit verbreitet sind, unabhängig von jeder Religion und Gottesvorstellung. Aber auch Menschen können Normen des Verhaltens vereinbaren und auf deren Einhaltung dringen, wie etwa die "Amerikanische Unabhängigkeitserklärung" oder die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" zeigen.

"Was heutige Humanisten denken, von welchen Wertvorstellungen sie ausgehen, ist besonders unter Gläubigen weithin unbekannt."

Der Mensch kann sich also seine ethischen Normen und Regeln selbst geben. Die Missbilligung von kirchlicher Seite an der angeblichen Selbstherrlichkeit des Menschen lautet, dass "eine solche Ethik sich nur noch an den tatsächlichen oder mutmaßlichen Interessen orientiere, die ein Mensch habe". Von einem Humanisten würde das nicht als Kritik aufgefasst werden. Eher als Bestätigung des Grundsatzes, dass der Mensch – immer mit Blick auf die Verantwortung auch für den anderen – das Maß der Dinge sei und nicht eine in sog. heiligen Schriften beschriebene göttliche Wesenheit.

Der sich in den letzten Jahrzehnten herausgebildete sog. Neue Humanismus versteht sich somit als eine weltliche Alternative zur Religion, als eine Weltsicht, die ohne Götter, Propheten und Priester auskommt, kein angeblich von einem Gott diktiertes heiliges Buch und keine Dogmen kennt, das Wissen über die Welt und den Menschen vor allem aus den Naturwissenschaften gewinnt, sich von überkommenen, metaphysischen Moralvorstellungen gelöst hat, stattdessen ethische Normen an den fundamentalen Bedürfnissen und Interessen der Menschen orientiert. Es ist deshalb der oft geäußerten Meinung zu widersprechen, dass der weltliche Humanismus beziehungsweise der Atheismus auch eine Form des Glaubens sei, mitunter wird sogar von einem »religiösen Atheismus« gesprochen. Wenn zum Wesen einer Religion die Annahme einer göttlichen beziehungsweise transzendenten Macht gehört, die in irgendeiner Weise auf mein Leben Einfluss nimmt, dann ist es unsinnig und unlogisch, auch dem weltlichen Humanismus oder dem Atheismus religiöse Züge zuzusprechen oder diesen als einen "Glauben" zu bezeichnen. Der weltliche Humanismus ist ein strikt diesseitsorientiertes Lebenskonzept ohne jeden transzendenten Bezug.

Die drei Säulen einer naturalistisch-humanistischen Weltanschauung

Dieser "Neue Humanismus" besteht vereinfacht gesagt aus drei Komponenten: Einem naturalistischen Weltbild, einem säkularen Wertesystem und einer strikten Diesseitsorientierung. Für mich persönlich würde ich mein humanistisches Bekenntnis wie folgt beschreiben, und ich denke, dass sich sehr viele meiner humanistischen Freunde dieser Sicht anschließen können.

Erstens: Ich betrachte das, was die heutigen Naturwissenschaften als derzeit gesicherte Erkenntnis ansehen, für mich zunächst einmal als maßgebend und als Basis für alle weiteren Überlegungen. Vor allem ist es die rationale, logische und systematische Denkweise der heutigen Naturwissenschaften und ihre empirische Verankerung, die ich mir zum Vorbild genommen habe. Ich bin höchst skeptisch allem gegenüber, was für sich Gültigkeit, ja Wahrheit beansprucht, ohne dafür wenigstens plausible Gründe angeben zu können. Dennoch ist nicht zu bestreiten, dass Wissenschaft heute noch vieles nicht erklären kann, und dass unser Wissen begrenzt und vielleicht niemals vollständig sein wird.

Zweitens: Ein säkulares Wertesystem kennt statt einer göttlich gestifteten Moral eine vernunftbasierte Ethik. Ein solches säkulares Wertesystem orientiert seine Normen und Regeln an den fundamentalen Bedürfnissen und Interessen der Menschen. Der Mensch ist also das Maß der Dinge, nicht eine behauptete, nicht erkennbare Instanz über uns. Dieses säkulare Wertesystem drückt sich aus in humanistischen Grundsätzen und allgemein anerkannten Menschenrechten wie Selbstbestimmung, Gleichheit und Freiheit der Menschen, Solidarität und soziale Gerechtigkeit, Toleranz gegenüber anderen Weltanschauungen.

Im Zentrum meines humanistischen Konzepts steht jedenfalls die Aussage, die in den Ohren vieler Menschen wie eine Provokation klingen mag, dass der Mensch das Maß aller Dinge sei. Dabei bin ich mir sehr wohl bewusst, dass der bloße Austausch von Instanzen noch keine Garantie für eine bessere Lösung darstellt. Aber nicht einzelne Menschen sollen hier über grundlegende Normen und problematische ethische Fragen entscheiden, sondern miteinander kommunizierende Menschen, die aufgrund von Sachverstand, Lebenserfahrung und Folgenabschätzung wägen und urteilen. Insofern hätten Ethik-Kommissionen ihre Berechtigung, wenn sie denn tatsächlich ein Spiegelbild der moralisch-ethischen bzw. weltanschaulichen Auffassungen der Bürger und nicht einseitig kirchlich-religiös dominiert wären.

Da Menschen naturgemäß unterschiedliche Bedürfnisse und Interessen haben, sollte das Prinzip des fairen Interessenausgleichs gelten. Unterschiedliche Interessen müssen nach dem Fairnessprinzip ausgehandelt werden. Das bedeutet, dass man sich um des gesellschaftlichen Friedens willen immer zu fragen hat: Was ist gleichermaßen gut und akzeptabel für alle beteiligten Seiten.

Und drittens: Meine strikte Diesseitsorientierung basiert auf der Einsicht, dass ich – höchstwahrscheinlich – nur dieses eine Leben habe. Folglich sollte ich versuchen, das Bestmögliche aus meinem Leben zu machen. Dieses Streben nach Erfüllung meines Lebens muss aber immer auch den Mitmenschen im Blick haben, der ebenso glücklich werden will. Deshalb gelingt ein erfülltes Leben am besten dadurch, dass man sich gesellschaftlich engagiert, sei es im politischen, im humanitären, vielleicht im künstlerischen Bereich. Und schließlich: Wer sich bemüht hat und wem es gelungen ist, auf ein erfülltes, glückliches Leben zurückblicken zu können, dem wird es leichter fallen, von dieser Lebensbühne wieder abzutreten.

Aber es gibt noch einen Punkt, den ich hier ansprechen will. Einer naturalistischen Weltanschauung wird gern "emotionale Armut" vorgeworfen, eine "reduzierte Wirklichkeitswahrnehmung" oder "Blindheit gegenüber den seelischen Bedürfnissen eines Menschen, der sich in existentieller Not befindet". Diese Vorwürfe sind nicht ganz unberechtigt. Denn wer die Religionen ablehnt und auch die Idee eines Jenseits verwirft, meidet daher meist Gedanken über Themen, die über uns hinausweisen, Fragen, die gewissermaßen die letzten Dinge betreffen. Denn Nichtgläubige haben die Sorge, wie gehabt, wieder in irrationales oder esoterisches Fahrwasser zu geraten.

Dennoch beschäftigen auch Nichtgläubige Fragen, die jenseits der rationalen Bewältigung des Alltags liegen. Auch Nichtgläubige denken über den Urgrund allen Seins nach, über die Unbegreiflichkeit der Realität, und kennen Gefühle des Einssein mit der Natur. Solche Themen sprechen eine – wie man sagen könnte – spirituelle Dimension an. Das Thema Spiritualität wird jedenfalls von vielen Nichtgläubigen inzwischen, wenn auch mit großer Zurückhaltung, als eine das Dasein bereichernde Dimension wahrgenommen. Bei dem Gedanken an die Endlichkeit der eigenen Existenz allerdings bietet für einen Nichtgläubigen die Verheißung auf ein Weiterleben im Jenseits keinen Trost. Zu offenkundig ist für ihn dieses religiöse Versprechen Wunschdenken, eine bloße Illusion.

Selbstbestimmung ist ein grundlegendes Menschenrecht

Das Selbstbestimmungsrecht ist ein Menschenrecht und hat damit Verfassungsrang. Art. 2, Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1, Abs. 1 GG garantiert jedem Menschen das Recht auf die "freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt". Die sog. Präimplantationsdiagnostik und die Sterbehilfe sind zwei Themen, an denen beispielhaft der Unterschied zwischen einer christlich-religiösen und säkular-humanistischen Auffassung im Zusammenhang mit dem Recht auf Selbstbestimmung deutlich gemacht werden kann.

Unter der Präimplantationsdiagnostik (kurz: PID) versteht man die Untersuchung von Embryonen, die im Reagenzglas erzeugt wurden, auf erblich bedingte Schäden vor ihrer Implantation in die Gebärmutter. Meist handelt es sich dabei um Eltern, die das genetische Risiko in sich tragen, ein schwerbehindertes Kind zu zeugen. Wird ein schwerwiegender Gendefekt bei dem nur drei Tage alten, 1/1000 mm großen Embryo in dessen 6- bis 8-Zell-Stadium erkannt, wird dieser Embryo dann nicht implantiert, also aussortiert, und ein nicht defekter ausgewählt. Kritiker der PID aus dem christlich-religiösen Lager sehen in diesem Ausleseverfahren die Zerstörung von menschlichem Leben, da – so wird argumentiert – ein Embryo bereits die Anlage zu einem vollständigen Menschen in sich trage. Die "Heiligkeit des Lebens", die "Ebenbildlichkeit des Menschen mit Gott" und die "Beseeltheit schon des Embryos" verbieten das Absterbenlassen von Embryonen, auch wenn sie schwere Erbschäden erkennen lassen. Die PID ist zwar nicht verboten, aber mit hohen Hürden versehen, die eine Inanspruchnahme sehr erschweren.

"In beiden ... Fällen wird das grundgesetzlich garantierte Recht auf Selbstbestimmung über das eigene Leben und den eigenen Körper massiv missachtet."

Eine ähnliche Problematik zeigt die sog. Sterbehilfe für Menschen mit unheilbarer Krankheit und unerträglichen Schmerzen, die selbst den festen Wunsch nach Erlösung von ihrem Leiden äußern. Die bisher erlaubte Hilfe eines Arztes beim selbst gewünschten Freitod ist inzwischen durch den Gesetzgeber faktisch unter Strafe gestellt worden. Dahinter steht ebenfalls die christlich-religiöse Auffassung, dass "das eigene Leben unverfügbar sei", "allein Gott entscheide, wann das Leben endet" und "als Geschenk Gottes unter keinen Umständen angetastet werden dürfe".

In beiden genannten Fällen wird das grundgesetzlich garantierte Recht auf Selbstbestimmung über das eigene Leben und den eigenen Körper massiv missachtet. Als erklärter Nichtchrist akzeptiere ich nicht, dass der Staat mir das grundgesetzlich garantierte Selbstbestimmungsrecht so weitgehend beschneidet. In einem demokratischen Staat, der vorgibt, weltanschaulich neutral zu sein, muss es möglich sein, unabhängig von religiöser Bevormundung zu leben und auch zu sterben. Immerhin haben inzwischen Gerichte bis hinauf zum Bundesgerichtshof das Selbstbestimmungsrecht am Lebensende immer wieder bestätigt.

Bei allem Protest von kirchlicher Seite an den Initiativen nichtreligiöser Kreise ist festzuhalten, dass kein Christ gezwungen ist, sich der liberaleren Auffassung eines Nichtchristen zur Sterbehilfe anzuschließen. Für einen wahren und überzeugten Christen müssten staatliche Gesetze zur Sterbehilfe, zum Schwangerschaftsabbruch oder etwa zur Präimplantationsdiagnostik überflüssig sein, denn es müsste ihm ja ein gern erfülltes Anliegen sein, Gottes Gebote, wie sie die Kirche für ihn festlegt, zu befolgen. Dass es dafür staatliche Gesetze gibt, die auch für den Nichtchristen gelten, der in diesen Fragen eventuell eine andere, ebenso zu achtende Auffassung hat, ist dem immer noch vorhandenen kirchlichen Streben nach Herrschaft "über die Seelen" geschuldet.

Dieses Streben nach Macht und Einfluss manifestiert sich in gesellschaftlichen Strukturen (z.B. im Erziehungswesen), wirkt unbewusst als tradiertes Wertesystem noch in den Köpfen selbst Glaubensferner und zeigt sich zum Beispiel in einem kirchlich-staatlichen Machtdenken, das stets mehr durch Verbieten als durch Vorleben und Überzeugen gekennzeichnet war. Diese aus dem Glauben folgenden strafbewehrten Verbote lassen einerseits erkennen, dass die Kirche ihrer eigenen Klientel nicht traut, andererseits sich anmaßt, auch allen Nichtgläubigen auf dem Umweg über staatliche Gesetze ihre Glaubensauffassung aufzuzwingen.

Wer sich bei medizinisch-ethischen Fragen auf ein Menschenbild beruft, das seine Wurzeln in den Jahrtausende alten Legenden eines einst in der Wüste lebenden Hirtenvolkes hat, wird in immer größere Abwehrkämpfe geraten und sein Heil letztlich immer nur in Verboten und mehr oder weniger willkürlichen Einschränkungen sehen. Ausschlaggebende und hilfreiche Argumente in solchen Entscheidungssituationen sind für mich die Antworten auf die Leitfragen: Wem nützt es? Wem schadet es? Wie kann Wohlbefinden, Gesundheit, Glück vermehrt, wie kann Leid verhindert werden? Warum einem schwerbehinderten, zukünftig lebenslang leidenden Menschen nicht schon vor seiner Geburt die Gnade der Nichtexistenz gewähren? Ist es mit christlicher Barmherzigkeit zu vereinbaren, einen schwerstleidenden Menschen der Folter unsäglicher, nicht zu stillender Schmerzen bis zum natürlichen Tod auszuliefern?

Ich sehe das Leben mit gedanklich erzeugten religiösen Konstrukten, die das Verhalten der Menschen lenken, als eine – einst vermutlich vorteilhafte – evolutionäre Phase der Menschheit an, die langsam abgelöst wird durch eine evolutionär sich weiter entwickelnde Wissenschaft und Philosophie vom Menschen. Am Horizont zeichnen sich Lebenskonzepte ab, die ohne einen imaginierten Übervater auskommen und die sich auf die im Menschen schlummernden Kräfte besinnen. Trotz des augenblicklich zu beobachtenden Rückfalls in die alten Illusionssysteme – was als ein letztes Aufbäumen eines alten Denkens zu interpretieren ist – dürfte feststehen, dass die Zeit dieser alten Glaubenssysteme sich dem Ende zuneigt. Dennoch muss wohl mit einem noch viele Jahrzehnte dauernden Kampf zwischen Vernunft und Glauben, zwischen realitätsbezogenem und illusionsgesteuertem Denken gerechnet werden.

Denn weltlicher Humanismus sieht sich umstellt von religiösen – christlichen, jüdischen und verstärkt in letzter Zeit islamischen – Kräften, die versuchen, mit politischen, juristischen, pädagogischen und medialen Mitteln die Entfaltung einer alternativen Weltanschauung zu behindern, wenn nicht zu verhindern. Diese weltanschaulichen Konflikte gefährden in einer zunehmend multiweltanschaulichen Gesellschaft den sozialen Frieden. Die Lösung kann vorerst nur in einer laizistischen Gesellschaftsordnung bestehen, das heißt, in einer konsequenten Trennung von Staat und Religion und in einer an der Erfahrung orientierten und konkreter definierten Religionsfreiheit.

Zu den Ergebnissen der erwähnten EMNID-Umfrage siehe auch: "Drei Viertel der BerlinerInnen mit humanistischer Lebensauffassung"