Agnostisch: aus dem Schneider oder zwischen den Stühlen?

Theisten glauben, dass es einen Gott gibt, Atheisten glauben nicht, dass es einen Gott gibt. Und dann sind da noch die Agnostiker, die sich für keine der beiden Positionen entscheiden können oder wollen. Doch was genau meinen Menschen eigentlich, wenn sie sich als "Agnostiker" bezeichnen? 

"Atheist bin ich keiner", sagt beim Bierchen der Freund im Rollkragenpulli, "sondern Agnostiker". Die morsche Hintertür, denke ich im Stillen, das Duck-und-Weg-Manöver, der feige Fickfack. Aber kann ich so rasch urteilen? Weiß ich, was mein Freund meint, wenn er sich das Etikett "agnostisch" umhängt?

Signalisiert er mir "Ich bin ein Hasenfuß und mag nicht streiten", "Ich will es mir mit der Erbtante nicht verscherzen" oder "Lass mich in Frieden, ich habe Besseres zu tun"? Hält er Existenz und Nichtexistenz von Göttern für gleich plausibel? Ist er aus vollem Herzen unentschlossen?

Wer durch die Sozialen Medien streift und die einschlägige Literatur verkostet, findet unterschiedliche Auslegungen für das Wort "agnostisch" und begegnet auf allen Gipfeln Rechthaber*innen, die ihre jeweilige Duftnote als alleingültig verteidigen. Und alle reden ex cathedra aneinander vorbei.

Wie soll man sich da verständigen?

Historischer Ansatz

Als erster verbriefter Agnostiker leuchtet der griechische Sophist Protagoras aus dem Dunkel der Antike (niemand weiß, ob er leibhaftig oder nur als Figur in Platos Schriften lebte). "Was Götter angeht, ist es mir unmöglich, zu wissen, ob sie existieren oder nicht", soll Protagoras gesagt und das Thema mit sympathischer Ungeduld vom Tisch gewischt haben: "Die Frage ist konfus und das menschliche Leben kurz." Freunde gewann er damit keine. Der Überlieferung nach verbannte ihn die damalige Koalitionsampel aus Athen und bei der Schiffspassage nach Sizilien ersoff er im Mittelmeer. Starker Seegang? Stießen Fundi-Matrosen den Ketzer über Bord? All das ist ungeklärt und wir müssen dazu wohl agnostisch bleiben.

Das Attribut "Agnostiker" wurde Protagoras allerdings viel später zugeordnet, denn der Begriff existiert erst seit rund 150 Jahren. Erfunden hat das Wort der englische Biologe Thomas Huxley, ein glühender Verteidiger der Evolutionstheorie, von seinen Feinden diffamiert als "Darwins Bulldogge". Gibt es einen Gott? Gibt es keinen? Huxley zufolge ist weder die eine noch die andere Haltung hinreichend bewiesen. Es zieme sich für den Menschen nicht, zu sagen, "dass er etwas weiß oder glaubt, was er wissenschaftlich nicht begründen kann".

Klingt gut – bis religiöse Spindoktoren die Idee vereinnahmen. Nick Spencer etwa, der Forschungsdirektor der ökumenischen Denkfabrik Theos, dreht Huxleys Wortschöpfung mühelos altarwärts: Sie ermögliche uns die gesunde Abkehr "von vermeintlicher Gewissheit" und sei ein treffliches Werkzeug "gegen jene, die keinen Zweifel zulassen und annehmen, ihr Theismus oder Atheismus sei unumstößlich wahr". Agnostikern attestiert Spencer händereibend "intellektuelle Demut".

Fazit: Der historische Ansatz stammt aus einer Epoche, in der Ungläubige noch notgedrungen auf Eiern tanzten. Zu biegsam die diplomatische Ausweichtaktik, zu naheliegend der Fehlschluss, Apologeten und Atheisten säßen im selben Boot. 

Fifty-Fifty-Ansatz

Eine andere Fraktion der Gipfelpropheten verweist auf die Glaubens-Skala im Richard-Dawkins-Klassiker "Der Gotteswahn". In Dawkins Messbecher sind Agnostiker keine Nichtswisser, die sich vorsichtshalber nicht festlegen wollen, sondern Menschen, die beide Optionen für ebenbürtig halten. Die Existenz und die Nichtexistenz eines Gottes sei in ihren Augen gleich wahrscheinlich:

  1. Starker Theist. 100-prozentige Wahrscheinlichkeit für Gott. In den Worten von C. G. Jung: "Ich glaube nicht, ich weiß."
  2. De-facto-Theist. Ich weiß es nicht sicher, aber glaube fest an an Gott und lebe mein Leben in der Annahme, dass er existiert.
  3. Höher als 50 Prozent, aber nicht allzu hoch. Im Grunde Agnostiker, neige aber zum Theismus. Ich bin unsicher, tendiere aber zum Glauben an Gott.
  4. Genau 50 Prozent. Völlig unvoreingenommener Agnostiker. Gottes Existenz und Nichtexistenz sind genau gleich wahrscheinlich.
  5. Niedriger als 50 Prozent. Im Grunde agnostisch, neige aber zum Atheismus. Ich weiß nicht, ob Gott existiert, bin aber skeptisch.
  6. De-facto-Atheist. Ich weiß es nicht sicher, halte aber Gott für unwahrscheinlich und lebe mein Leben in der Annahme, dass er nicht existiert.
  7. Starker Atheist. Ich weiß, dass es Gott nicht gibt, mit gleich starker Überzeugung wie Jung "weiß", dass er existiert.

Wie aus Dawkins Ausführungen hervorgeht, rückt er seine Agnostiker bewusst in die Ecke jener, die in der Schule selig schliefen, als an einem sonnigen Vormittag die Wahrscheinlichkeitsrechnung gestreift wurde. Selbstredend ist Fifty-Fifty eine Kalkulation ohne Grundlage, da es zur Gottesfrage keine prüfbaren Daten gibt.

Deutlich wird die Unvertretbarkeit dieser Denkweise, wenn man sie probeweise anwendet auf den Flache-Erde-Mythos, die Heinzelmännchen in meinem Keller oder die Helden im Fantasyregal. Ist Harry Potter eine Romanfigur oder begleitet er mich wirklich unsichtbar auf all meinen Wegen auf seinem fliegenden Rennbesen? Agnostiker: "Es steht unentschieden!"

Fazit: Diese Interpretation des Agnostizismus ist mehr als devote Zurückhaltung; sie gießt Öl auf das Feuer der Gotteswähnler. Vertritt das Gros der Atheisten die "gerechtfertigte Überzeugung", dass Götter nicht existieren? Nein, wir weisen bloß die "ungerechtfertigte Überzeugung" der Theisten zurück, dass es welche gäbe.

Semantischer Ansatz

Die Vertreter dieser Deutung berufen sich auf die Wortwurzel γνῶσις (gnosis), altgriechisch für "Kenntnis/Wissen". Folglich, so argumentieren sie nicht ohne Logik, geben die Vokabeln gnostisch und agnostisch strikt nur Auskunft zu Fragen des Wissens und Wissenkönnens. Wer die Frage "Glaubst du an Gott?" erwidert mit "Da bin ich agnostisch", verfehlt das Thema und speist uns mit einer Scheinantwort ab. Denn nicht, was du weißt, war gefragt, sondern woran du glaubst.

Eine Sintflut von Internet-Memen erklärt die vier möglichen Paarungen, die sich daraus ergeben:

Gnostischer Atheist – weiß, dass Gott nicht existiert und glaubt nicht an ihn

Agnostischer Atheist – weiß nicht, ob Gott existiert, aber glaubt nicht an ihn

Agnostischer Theist – weiß nicht, ob Gott existiert, glaubt aber trotzdem an ihn

Gnostischer Theist – weiß, dass Gott existiert und glaubt an ihn

Dieses Raster ist aber nur tragfähig, solange Wissen und Glauben als Gegenpole gehandelt werden. Auftritt der Philosophen, die uns erinnern, dass Wissen und Glauben, genau besehen, als bloße Grade fluktuieren auf dem Barometer des "Von-etwas-überzeugt-Seins" – ob aus validen oder theologischen Gründen, steht auf einem anderen Blatt. Auf Deutsch stößt das Barometer-Bild oft auf Unverständnis, da bei uns die Trennung zwischen Glauben und Glaube nicht so ohrenfällig ist wie im Englischen, das belief eindeutig von faith abgrenzt.

Aber sieh es mal so, liebe Leserin: Unter den Bedeutungen für "glauben" listet der Duden "wähnen" und "fälschlich annehmen" ebenso auf wie "für möglich, wahr und richtig halten". Darum betrachten die Philosophen Wissen als eine Teilmenge von Glauben. Denn nicht alles, was ein Mensch glaubt, weiß er sicher. Wer aber evidenzbasiert weiß, dass die Erde rund ist, glaubt es auch – er kann gar nicht anders! Die Umkehrprobe macht sicher: Die Aussage "Ich weiß, dass die Erde eine Kugel ist, aber glauben (= für wahr halten) tu ich es nicht" ergibt keinen Sinn.

Fazit: Auch dieser Ansatz wackelt, da die Grenze zwischen Glauben und Wissen flüssig ist, je nachdem, ob an der Theke C. G. Jung sitzt oder Bertrand Russell.

Wie man ihn dreht und wendet, "agnostisch" bleibt ein schwammiger Begriff, dessen Deutungen auseinanderdriften von Salem bis Sydney und von Kiel bis Klagenfurt. Zwar lässt das Wort sich bei Bedarf an Definitionen von Anno Dunnemal festzurren – doch das Beharren auf einer persönlichen Lieblings-Lesart bringt herzlich wenig für fruchtbare Gespräche. Stattdessen gilt es zu erfragen, was Thomas, David oder Jennifer ausdrücken wollen, wenn sie sich Agnostiker nennen. Full circle zurück zu Protagoras' markantestem Spruch: "Der Mensch ist das Maß aller Dinge".

Wären wir besser dran ohne das Wort "agnostisch", das an Unschärfe kaum zu überbieten ist? Vermutlich. Statt Indifferenz, Glauben und Wissen gegeneinander auszuspielen, empfiehlt sich ein anderes Paradigma, nämlich die zu Recht von jedem Erwachsenen geforderte Antwort auf die entscheidende Frage: Was hältst du für wahr und wie triftig sind die Gründe für deine Überzeugungen?

Am Rande: Der Physiker Leonard Susskind, einer der Väter der Stringtheorie, steht agnostisch zur Agnostikerei. "Gott oder nicht? Ich kann nicht wissen, ob das überhaupt die richtige Frage ist."

Erstveröffentlichung des Textes auf der Webseite des Humanistischen Verbands Österreich (HVÖ). Übernahme mit freundlicher Genehmigung.

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