Im Vorfeld der Bundestagswahl 2017 gab es Aufrufe von vielen Organisationen, sich an der Wahl zu beteiligen. Dass ausgerechnet eine offen christliche Wahlmotivations-Kampagne aus öffentlichen Töpfen finanziert wurde, gibt zu denken.
Deutschland hat gewählt. Begleitet wurde die Bundestagswahl in Deutschland diesmal wohl stärker als je zuvor von vielfältigen Aufrufen, sich an der Wahl zu beteiligen. Neben den Vertretern von Staat und Parteien schalteten auch Gewerkschaften und andere Organisationen Zeitungsanzeigen mit Wahlaufrufen und überschwemmten die Sozialen Medien mit entsprechenden Kampagnen.
Besonders hervorzuheben ist hierbei eine Wahlmotivations-Kampagne mit dem Namen "Wählerisch sein". Auf der Homepage der Kampagne wird man von strahlenden Gesichtern begrüßt. Gesichter von Menschen, die den interessierten Leser darüber aufklären, warum sie selbst "wählerisch sind". Ein Aufruf für den herein stolpernden Homepage-Besucher, es ihnen gleich zu tun und dabei sehr genau darauf zu achten, was man wählt. Auf den ersten Blick eine Wahlmotivations-Kampagne wie viele andere auch. Der zweite Blick jedoch lässt Stirnfalten aufkommen. Die Testimonials der Abgebildeten nennen jeweils eine Inspirationsquelle für ihre Entscheidung, wählerisch zu sein – einige nennen einen Artikel des Grundgesetzes, die weitaus größere Zahl jedoch einen Vers aus der Bibel.
Spätestens an dieser Stelle sollte dem Besucher der Homepage klar werden, dass es sich bei "Wählerisch sein" um eine Kampagne der Kirche handelt. Ein genauerer Blick auf die Homepage verrät, dass dies ein Projekt der Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsens ist, die selbiges in Zusammenarbeit mit dem Landesjugendpfarramt Oldenburg in Niedersachsen und diversen überregionalen evangelischen Organisationen durchgeführt hat. Oder genauer: Noch immer durchführt, denn der Wahlaufruf gilt laut Homepage nicht nur für die Bundestagswahl sondern auch für die Landtagswahl in Niedersachsen am 15. Oktober 2017.
Doch der Kampagne geht es nicht allein darum, die Wahlmotivation zu erhöhen. Ihr tieferer Sinn erschließt sich beim Lesen des Projekt-Konzepts:
"Die Statements beziehen sich auf Aussagen des Grundgesetzes und der Bibel, die thematisch einander zugeordnet sind. Ohne Hinweis auf Parteien und Programme wird damit eine doppelte Aufmerksamkeit erzielt:
1. Wichtige Grundlagen und Prinzipien der freiheitlich-demokratischen Grundordnung werden ins Bewusstsein gerufen.
2. Die Verkoppelung mit biblischen Texten macht deutlich, auf welchem Fundament diese Werte stehen."
Welche Werte dies sind, darüber lässt die Kampagne keinen Zweifel aufkommen:
"Die Prinzipien der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gründen auf christlichen Werten."
Tieferer Sinn von "Wählerisch sein" ist es also, die Idee zu verbreiten, dass es sich bei der Bibel um das Fundament des Grundgesetzes handelt. Eine nicht unproblematische Aussage. Zum einen, weil sie inhaltlich vollkommen falsch ist, zum andern, weil Wahlmotivationskampagnen gerade auf junge Wähler zielen, denen hier ein völlig falsches Verhältnis von Verfassung und religiösen Schriften vorgegaukelt wird.
Die Kampagne versucht sogar, diesen Zusammenhang tatsächlich nachzuweisen, indem sie Artikeln des Grundgesetzes "thematisch passende Bibelzitate zuordnet". Dass diese Bibelzitate inhaltlich größtenteils nur durch fantasievolle Auslegung inhaltlich den entsprechenden Stellen des Grundgesetzes zugeordnet werden können, ist hierbei nur eine Sache. Die andere ist, dass die blutigen und mit dem Grundgesetz auch nicht ansatzweise in Einklang zu bringenden Teile der Bibel, in denen zu Völkermorden und sonstigen Menschenrechtsverletzungen aufgerufen wird, in der Auflistung der Kampagne – wie bei solchen Gelegenheiten oft – gänzlich unerwähnt bleiben.
Doch es wird noch besser. Zwar spricht die Kampagne "Wählerisch sein" keine direkte Wahlempfehlung aus, doch fordert sie deutlich dazu auf, besonders in einem Punkt wählerisch zu sein und sich die Parteiprogramme der Parteien genau anzuschauen – nämlich was deren Verhältnis zu den Religionsgemeinschaften betrifft, ihre Aussagen zum Verhältnis von Staat und Kirche, Religionsunterricht und kirchlichen Schulen, dem kirchliche Arbeitsrecht, dem Schutz von Sonn- und Feiertagen sowie ethischen Fragen in Hinblick auf Lebensanfang und –ende. Um es dem Leser einfacher zu machen, wurden die entsprechenden Passagen aus den Wahlprogrammen von der Kampagne zusammengestellt.
Nun mag man es der Kirche nachsehen, dass sie keine neutrale Wahlmotivations-Kampagne betreibt, sondern diese Kampagne quasi als U-Boot nutzt, um ihre christliche Sicht auf Welt und Grundgesetz zu promoten. Was jedoch erstaunt und zugleich wütend macht, ist die Tatsache, dass diese Kirchen-Werbung mit öffentlichen Mitteln gefördert wird:
"Das Projekt wird aus Mitteln des BMFSFJ (Bundeministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – Anmk. d. Red.), Mitteln der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens sowie aus Mitteln des Förderprogramms Generation³ des Landes Niedersachsen finanziert."
Weltanschaulich neutraler Staat geht definitiv anders.
Eine weiterführende Hinterfragung des Projekts findet sich beim Ketzerpodcast:
11 Kommentare
Kommentare
Rene Goeckel am Permanenter Link
Hat schon jemand das BMFSFJ dazu befragt?
Matthias Krause am Permanenter Link
Es gibt in der Tat eine Anfrage über "fragdenstaat.de": https://fragdenstaat.de/anfrage/fordermittel-fur-die-aktion-wahlerisch-seinde/
Eine E-Mail des Ketzerpodcasts an die Presseabteilung des BMFSFJ vom 14. September wurde nicht beantwortet.
Rene Goeckel am Permanenter Link
Mir wurde nicht mal der Eingang meiner mail bestätigt.
Kay Krause am Permanenter Link
Wähler, du mußt christlich wählen,
weil nur dann die Stimmen zählen
für die Kirchen dieser Welt,
denn sie zählen auf dein Steuergeld,
das mit vollen Händen dieser Staat
Drum sei sie ohne LINKE oder GRÜNE Qual
schwarz und rechts, die Farbe deiner Wahl !
Hans Trutnau am Permanenter Link
"... die Idee zu verbreiten, dass es sich bei der Bibel um das Fundament des Grundgesetzes handelt. Eine nicht unproblematische Aussage."
Äußerst problematisch. Aber sie versuchen es immer wieder.
Roland Fakler am Permanenter Link
Unsere wichtigsten Werte, Demokratie, Weltanschaungsfreiheit, Gleichberechtigung… können nur schwer aus der Bibel abgleitet werden, denn dort steht:
Weltanschauungsfreiheit: 1. Gebot: „Du sollst keine anderen Götter neben mir haben“.
Jesus: Mk. 16:16 „Wer glaubt und sich taufen lässt, wird gerettet; wer aber nicht glaubt, wird verdammt werden“.
Gleichberechtigung der Frau: Paulus: 1 Kor 22 „Ein Weib lerne in der Stille mit aller Untertänigkeit. Einem Weibe aber gestatte ich nicht, dass sie lehre, auch nicht, dass sie des Mannes Herr sei, sondern stille sei. Denn Adam ist am ersten gemacht, danach Eva. Und Adam ward nicht verführt; das Weib aber ward verführt und hat die Übertretung eingeführt. Sie wird aber selig werden durch Kinderzeugen,… Die Weiber seien untertan ihren Männern als dem Herrn. Denn der Mann ist des Weibes Haupt, gleichwie auch Christus das Haupt ist der Gemeinde, und er ist seines Leibes Heiland. Aber wie nun die Gemeinde ist Christo untertan, also auch die Weiber ihren Männern in allen Dingen.“
little Louis am Permanenter Link
Unterstützt der Staat auch die evangelische "Hitlerglocke" in Herxheim?
Heller Aufruhr im süddeutschen Schilda äh, Herxheim. Ist der Hinweis auf die "einmalige Historizität" der nationalsozialistischen Glockengravur in der dortigen evangelischen Kirche nun nur zulässig- musealer Nationalstolz oder handelt es sich gar um bewusste Verharmlosung eines Unrechtssystems? Der örtliche Gemeinderat weiß wegen der internationalen Aufmerksamkeit jetzt gar nicht mehr aus noch ein:
Ob die Hitlerglocke da sein sollte oder nicht da bleiben sollte, wem sie eigentlich gehört oder nicht oder ob öffentlich stolze Befürworter des Daseins (der Glocke mit Hitlerspruch) Nazi- Verherrlicher sind oder nur brave Patrioten. Das schlimmste aber ist: Keiner weiß, wo die Hitlerglocke hin soll. Denn keiner weiß so recht, wem sie gehört. Entweder der (evangelischen) Kirche , in der sie hängt, oder doch der Gemeinde, der da irgendwie auch was davon gehört. Immerhin ist aber wenigstens einem Bürger klar, was auf jeden Fall illegal ist und deshalb nicht da sein darf und wieder verschwinden soll:
Ein neu angelegter Weinberg!
Man lese und staune hier:
https://www.rnz.de/nachrichten/metropolregion_artikel,-hitler-glocke-herxheim-will-seine-ruhe-haben-_arid,305120.html
Rene Goeckel am Permanenter Link
Ich habe jetzt eine Antwort vom Ministerium erhalten, schlauer bin ich dadurch leider nicht geworden. Die Förderung basiert auf § 74 SGB VIII – Förderung der freien Jugendhilfe. Aha.
Rene Goeckel am Permanenter Link
Ich habe nun eine Antwort der Landeskirche Sachsen erhalten:
Sehr geehrter Herr Göckel,
vielen Dank für ihre Mail und das damit verbundene Interesse an dem Projekt www.wählerisch-sein.de!
Das Projekt ist maßgeblich durch den Jugendverband der Evangelischen Jugend in Sachsen betrieben worden. Die Evangelische Jugend in Sachsen ist der größte inhaltlich arbeitenden Jugendverband im Freistaat Sachsen und in dieser Funktion als freier Träger der Kinder- und Jugendhilfe nach den §§ 11 und 12 des SGB VIII im Sinne des Subsidiaritätsprinzips berechtigt neben dem Einsatz von Eigenmitteln auch staatliche Förderungen zu erhalten.
Darüber hinaus ist das Projekt www.wählerisch-sein.de ja gerade nicht zur Werbung für unsere Kirche gedacht oder nur an Christen gerichtet gewesen, sondern richtete sich grundsätzlich an alle Bürgerinnen und Bürger. Es hat die Stärkung der Demokratie zum Ziel, in diesem konkreten Fall verbunden mit dem Aufruf zur Beteiligung an der Bundestagswahl. Für Christen kann es hilfreich sein, Bezüge zwischen ihrem christlichen Glauben bzw. Aussagen der Bibel und dem für alle Bürgerinnen und Bürger dieses Landes geltenden Grundgesetz herzustellen – für Nichtchristen kann es interessant sein, Verfassungsgrundsätze auch einmal aus der Perspektive einer Religion zu betrachten. Ziel war jedoch nicht die Bewerbung unserer Religion, sondern die Ermunterung, sich mit den Grundsätzen unserer freiheitlich-demokratischen Verfassung auseinanderzusetzen.
In diesem Sinne möchte unsere Kirche sich auch an gesellschaftlichen Prozessen beteiligen und sich einbringen, damit die durch unsere Verfassung geschützte Vielfalt an Positionen, Meinungen, Lebensweisen und Religionen auch weiter so erhalten werden kann.
Für weitere Fragen stehe ich Ihnen sehr gern zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüßen
Nun kann sich jeder seine Gedanken dazu machen.
Marc Niedermeier am Permanenter Link
Ich habe zu diesem Thema eine kleine Beitragsreihe verfasst, in der ich die einzelnen Bibelverszuordnungen genauer unter die Lupe genommen habe: https://www.awq.de/category/btw2017/
Michael Brade am Permanenter Link
Warum haben IBKA oder gbs nicht auch eine Kampagne konzipiert und sie sich vom BMFSFJ co-finanzieren lassen? "Machen statt meckern" ist die Kurzformel des sperrigen Begriffs der Subsidiarität.