Problem Übertherapie am Lebensende

"Sterbende haben keinen Rechtsschutz"

Schätzungen zufolge fallen rund die Hälfte aller Gesamtgesundheitsausgaben im letzten Lebensjahr an. Dr. Matthias Thöns vermutet eine der Hauptursachen für die Explosion der Gesundheitskosten am Lebensende in den finanziellen Interessen einer Interessensgruppe, die er "Sterbeverlängerungskartell" nennt. Warum sich diese Allianz in erster Linie nicht mehr um ihre Patienten, sondern um Gewinnmaximierung kümmert, erklärte der Palliativmediziner am Dienstagabend in Berlin.

Der 79-jährige Siegfried T. weiß, dass er einen Herzfehler hat, doch die Risiken eines Eingriffs sind ihm in seinem Alter zu hoch. Sollte seine "Pumpe" eines Tages stehenbleiben, dann ist seine Zeit eben gekommen. Als nach einem Routinebesuch beim Zahnarzt sein Herz stehenbleibt, ruft seine Frau den Notarzt. Doch als der eintrifft, sind bereits mehr als 15 Minuten vergangen und der 80-Jährige zeigt keine Lebenszeichen mehr. Seine Frau bittet den Notarzt, den Willen ihres Mannes zu respektieren und ihn nicht zu reanimieren. Denn er hatte in seiner Patientenverfügung hinterlegt, dass er "bei wahrscheinlicher Dauerschädigung des Gehirns" mit einer Intensivtherapie "nicht einverstanden" ist. Eine solche Dauerschädigung ist schon bei einer fünfminütigen Unterversorgung mehr als wahrscheinlich. Dem Notarzt ist das egal. Sechs Mal drückt er dem leblosen Mann den Defibrilator auf die Brust, bis er wieder Herztöne bekommt. Mit schwersten Hirnschäden wird der Mann in die Klinik eingeliefert. Venen, Hals, Magen und Blase werden katheterisiert, Gustav A. mit Apparaten am Leben gehalten. Als seine Familie der Klinik die Patientenverfügung vorlegt, ignoriert diese den Patientenwillen. Sechs Wochen lang hält sie den Mann intensivtherapeutisch gegen seinen Willen am Leben, bis das Betreuungsgericht Dresden einschreitet. Erst dann wird er auf eine Palliativstation verlegt und darf drei Tage später sterben.

Der Anästhesist und Palliativmediziner Dr. Matthias Thöns kennt den vor wenigen Tagen bei "Stern TV" vorgestellten Fall genau, denn er wurde als Gutachter hinzugerufen. Aus den Akten gehe hervor, dass die Ärzte schon früh wussten, dass Siegfried T. einen schweren Hirnschaden davongetragen hat, berichtete Thöns am Dienstagabend in Berlin. Zugeben wollten sie das aber nicht, weil man mit einem Verstorbenen kein Geld mehr verdienen könne.

Nicht der Patientenwille, sondern das wirtschaftliche Interesse von Kliniken, Pharmaunternehmen und Ärzten seien inzwischen ausschlaggebend für die medizinischen Maßnahmen am Lebensende, lautet die Anklage des im nordrhein-westfälischen Witten niedergelassenen . Die Leidtragenden sind Patienten wie Siegfried T. Bei der Durchsicht dessen Krankenakte stellte Thöns über 50 Leidenszustände fest, von Schweißausbrüchen über Schmerzzustände bis hin zu Erstickungsnot.

Thöns ist derzeit einer der gefragtesten Mediziner in Deutschland, weil er Fälle wie den gerade geschilderten ans Tageslicht bringt. Er gehört zu den wenigen Ärzten, die es wagen, ihre Stimme gegen die "marktkonforme" Medizinindustrie zu erheben. In seinem Bestseller "Patient ohne Verfügung" erklärt er, warum Sterbenskranke in deutschen Kliniken aufwendige und vor allem kostenintensive Behandlungsmethoden erhalten, während eine zeitintensive Beratung, die von sinnlosen Therapien abrät, außerhalb jeder Vorstellung liegt. Er legt darin die schiefen Strukturen eines Gesundheitssystems offen, dass mehr für die Einnahmen von Kliniken und Ärzten tut, als für Genesung und Wohlbefinden von Patienten.

Cover

Im hpd fand Thöns Buch viel Zustimmung. Sowohl der Mediziner und Sterbebegleiter Hartmut Klähn als auch Deutschlands bekanntester Sterbehelfer Christian Uwe Arnold lobten in ihren Beiträgen den Mut des jungen Arztes, sich mit den Big Playern der Gesundheitsindustrie anzulegen, und wünschten dem Buch einen großen Leserkreis.

Die Wochenzeitung "Die Zeit" machte den 50-jährigen Mediziner jüngst gleich zur Speerspitze einer Gegenbewegung gegen die Übertherapie am Lebensende. Tatsächlich ist Thöns nicht der einzige, der sich mit diesem Thema in jüngerer Zeit auseinandergesetzt hat. Michael De Ridder, Gian Domenico Borasio, Christian Uwe Arnold und Karl Lauterbach sowie das Autorenduo Boudewijn Chabot und Christian Walther sind nur einige der medizinisch kundigen Fachleute, die in letzter Zeit Pubikationen zur Medizin am Lebensende veröffentlicht haben.

Was Thöns von diesen und anderen Gesundheitsexperten unterscheidet, ist sein vollkommen unprätentiöses Wesen. Ein warmes Dauerlächeln und ein lockerer Spruch nach dem anderen geht bei aller Ernsthaftigkeit von ihm aus. Wenn man daraus Rückschlüsse auf seine Empathiefähigkeit ziehen würde, das Ergebnis wäre stark positiv. Es scheint so, dass er sich, gerade weil er es täglich mit Menschen in der finalen Lebensphase zu tun hat, seinen Humor und Frohsinn nicht nehmen lassen will.

Dr. Thöns ist kein aufgesetzter Intellektueller, sondern ein Mann der Praxis. Er verbirgt das, was er zu sagen hat, nicht hinter medizinischem Fachvokabular, philosophischen Reflexionen oder hölzernen Rechtsbegriffen. Wenn er erklärt, wie in deutschen Kliniken die Apparatemedizin in den Vordergrund rückt oder Chefärzte Patienten zu unnötigen Behandlungen überreden, dann macht er das ganz praktisch und greifbar. Das konnten auch die über 450 Besucher der vom hpd und der Bundeszentralstelle Patientenverfügung präsentierten Buchvorstellung in der Urania Berlin erleben.

Für Aufsehen sorgten etwa seine Erkenntnisse bei der Praxis der Beatmungstherapie. Thöns hatte für sein Buch einen fiktiven Fall geschaffen, in dessen Mittelpunkt ein schwerstkranker, im Wachkoma verharrender Mann steht. Der Mediziner gab sich gegenüber 254 Pflegediensten als dessen Nichte aus, die den vermögenden Onkel gegen dessen in einer Patientenverfügung niedergelegten Willen beatmen lassen wollte, "schon seiner formidable Rente wegen". 140 der 155 Pflegedienste, die auf die Anfrage antworteten, erklärten sich bereit, die Pflege des Onkels inklusive Beatmungstherapie gegen dessen Willen zu übernehmen.

Diese Zahlen schienen so unglaublich, dass das ARD-Magazin Monitor gemeinsam mit Thöns einen ähnlichen Fall inszenierte und mit verdeckter Kamera bei sechs Pflegediensten vorsprach. Auch hier zeigten fünf von sechs ambulanten Pflegediensten Interesse, einen unheilbaren Patienten aufzunehmen und zu beatmen. Der Grund ist so einfach wie schockierend. Der Patientenwillen wird ignoriert, weil das System mit einem Verstorbenen kein Geld mehr machen kann. Mit einem unfreiwillig beatmeten Wachkomapatienten können ambulante Pflegedienste hingegen zwischen 800 und 900 Euro am Tag verdienen, eine Klinik bei stationärer Rund-um-die-Uhr-Beatmung sogar 23.426 Euro.

Ähnlich Skandalöses zum Thema Übertherapie (siehe auch www.uebertherapie.de) konnte Thöns auch bei anderen Fragen der Intensiv- und Notfallmedizin berichten. Er berichtet von Onkologen, die bei einem fortgeschrittenen Krebs ein Mittel einsetzen, das mit seinen schweren Nebenwirkungen nicht nur die Lebensqualität der Patienten stark beeinträchtigt, sondern auch nur eine ungefähre Lebenszeitverlängerung von zehn bis zwölf Tagen bietet; Kostenpunkt: 29.000 Euro! Er erzählt von Chirurgen, die in ausweglosen Situationen noch mehrstündige Intensivoperationen als "heilend" anpreisen, sowie von Kardiologen, die selbst dann noch entschlossen zum Einsatz eines Herzkatheders raten, wenn dessen therapeutische Wirkung mehr als zweifelhaft ist. Auch hier fallen in beiden Szenarien Kosten in mindestens fünfstelliger Höhe bei den Kassen an.

Thöns geht es nicht darum, einzelne Personen bloßzustellen oder spektakuläre Einzelfälle zu Generalanklagen zu missbrauchen, sondern um die Aufdeckung der strukturellen Schieflage im Gesundheitssystem. Denn Ärzte und Kliniken stehen unter einem enormen Kostendruck. Dieser führe immer wieder dazu, dass Menschen am Lebensende – oft gegen ihren Willen – geradezu standardisiert mit kostenintensiven und langwierigen Therapien versorgt werden, auch wenn ein Erfolg der Behandlung nicht absehbar ist. Nicht selten fließen dabei Boni an die behandelnden Ärzte – ein weiteres Strukturproblem, gegen das nichts getan wird. Thöns fordert hier Transparenzregeln, so dass Patienten und Angehörige künftig wissen, ob und wenn ja, welche Prämie an den behandelnden Arzt fließt, wenn sie die OP-Einwilligung unterzeichnen.

In diesem System gerät der persönliche Wille der Patienten immer wieder unter die Räder der Profitinteressen des "Sterbeverlängerungskartells" – selbst dann, wenn er in einer Patientenverfügung fixiert sei und vorgelegt werde. Das Beunruhigende daran ist, dass es die Befürchtungen in der Bevölkerung vor einem unfreiwillig langen Sterben nährt. Wie die Ergebnisse einer repräsentativen Studie des sozialwissenschaftlichen Instituts der Evangelischen Kirche zeigen, haben die Menschen in Deutschland relativ wenig Angst vor dem Tod an sich. Wovor sie sich aber sehr wohl fürchten, ist ein langer Prozess des Sterbens (62 Prozent) sowie das Auftreten von starken Schmerzen und Atemnot (60 Prozent) – sowohl bei sich selbst als auch bei Angehörigen. An dritter Stelle wird die Befürchtung genannt, Angehörigen oder anderen Bezugspersonen zur Last zu fallen (35,2 Prozent) und gleich danach die Angst, "den medizinischen Möglichkeiten zur Lebenserhaltung ausgeliefert zu sein" (28 Prozent). Bei den über 80-Jährigen nehmen all diese Befürchtungen deutlich ab, allein die Angst vor einem langen Sterbeprozess teilen auch in dieser Gruppe mehr als die Hälfte der Befragten.

Was kann man als Einzelner tun, um nicht ins Mühlenwerk der marktliberalen Medizinindustrie zu geraten? Diese Frage trieb die Besucher um, die Thöns Ausführungen nicht nur aufmerksam verfolgten, sondern auch selbst mit Fallbeispielen aus der eigenen Erfahrung ergänzten. Als grundlegend stellte sich in dem von Rechtsanwalt Walter Otte moderierten Austausch mit dem Publikum eine Patientenverfügung heraus. Diese sollte so detailliert wie möglich ausfallen. Denn sie bildet die wichtigste Grundlage zur Ermittlung des Patientenwillens, dem sowohl die Ärzte als auch eingesetzte Betreuer verpflichtet sind. Ob diese handschriftlich oder maschinell angefertigt ist, sei egal.

Seinem Buch hat Thöns eine Vorlage einer solchen Verfügung beigefügt. Was der Leser nicht weiß: es ist seine eigene Verfügung, ausgestellt mit einem erheblichen Lebenswillen. Denn der 50-Jährige ist gerade Vater geworden. Das erklärt auch, warum er darin die "zum jeweiligen Zeitpunkt mögliche Maximaltherapie" wählt, also das "volle Programm der lebenserhaltenden Maßnahmen". Das ist nicht der einzige kritische Punkt an diesem Teil seines Buches, ältere Menschen sollten die Verfügung daher nicht einfach nur kopieren, sondern sich beraten lassen. Ohnehin empfiehlt er eine Beratung bei den einschlägigen Stellen – die Bundeszentralstelle Patientenverfügung beim Humanistischen Verband (HVD) oder die Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) bieten sich hier an.

Dr. Matthias Thöns, Foto: © Evelin Frerk
Dr. Matthias Thöns, Foto: © Evelin Frerk

Wichtig sei außerdem die Bestimmung von Bevollmächtigten für den Fall, dass man den eigenen Behandlungswunsch nicht mehr selbst vortragen oder durchsetzen kann. Dabei sollte man darauf achten, jemanden zu wählen, der altruistisch im Sinne der Betroffenen handelt und auch in der Lage ist, das Sterbenlassen einer nahestehenden Person gegen medizinische Empfehlungen durchzusetzen. Dabei ist es möglich, auch mehrere Personen zu benennen, dann müsse allerdings eine klare Reihenfolge festgelegt werden, um Streitigkeiten zu verhindern.

Neben den individuellen Bedürfnissen nach Auskunft zur bestmöglichen Vorsorge wurden auch zwei grundsätzliche Fragen andiskutiert: die Erfolgsaussichten von Strafanzeigen gegen den Patientenwillen ignorierende Ärzte sowie die zweifelhafte Rolle der untätigen Krankenkassen, die die teuren Therapien finanzieren. Die Strafverfolgung von Ärzten sei so gut wie aussichtslos, erklärte Thöns, weil die Staatsanwaltschaften aus seiner Erfahrung kaum Interesse an einer ernsthaften Verfolgung entsprechender Verdachtsmomente haben. Seine zuspitzende Aussage "Sterbende haben keinen Rechtsschutz" sorgte für betroffenes Raunen im Saal.

Auch bei der Frage zur Rolle der Krankenkassen konnte der Mediziner wenig Erbauliches berichten. Er habe schlichtweg keine Ahnung, warum die Krankenkassen selbst in offensichtlich ausweglosen Situationen noch die teuersten Therapien finanzieren. Er mutmaßt, dass sie Angst vor schlechter Presse haben, wenn sie schwerkranken Patienten durch die Verweigerung einer Kostenübernahme die vermeintliche Genesung versagen. Absurd, wie Thöns findet, denn eine standardisierte Prüfung der umstrittenen Dauerbeatmung könnte für Krankenkassen sogar ein Wettbewerbsvorteil in einem Markt sein, der nur eine Erhöhung der Beiträge kennt. Er rät daher den Beitragszahlern, ihre Krankenkassen mit der Frage zu löchern, warum sie in vorauseilendem Gehorsam die zahlreichen kostenintensiven Therapieformen am Lebensende finanzieren, auch wenn diese absehbar keine Heilung oder Besserung der Lebenssituation herbeiführen, während sie bei der Kostenübernahme von Krankengymnastik, Logopädie oder Psychotherapie auch den dritten Gutachter nicht scheuen, bevor sie einer Finanzierung zustimmen.

In seinem Buch schreibt Dr. Thöns, dass Schätzungen zufolge rund die Hälfte aller Gesamtgesundheitsausgaben im letzten Lebensjahr anfallen. Nach zwei Stunden mit dem Wittener Arzt hat man so eine Ahnung, warum das so ist und weshalb die Beitragszahlen bei den Krankenkassen nur eine Entwicklung kennen.

Zufrieden gingen die rund 450 Zuhörer nicht nach Hause, aber zumindest sensibilisiert und gut beraten. Nicht wenige nahmen neben einem Exemplar von "Patient ohne Verfügung" auch gleich noch ein Formular für eine Patientenverfügung beim Humanistischen Verband mit. Ihre Anliegen werden wohl nicht wenige in den kommenden Tagen beim HVD oder der DGHS vortragen. 

Nachtrag: Das Thema der Suizidbeihilfe blieb an diesem Abend nahezu außen vor. In seinem Buch bekennt sich Matthias Thöns, der auch als Sachverständiger in den Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages geladen wurde, als Befürworter der Suizidbeihilfe. Diese wurde unter großer Einflussnahme der Kirchen und religiöser Gruppen im Herbst 2015 gesetzlich verboten. Inzwischen liegen dem Bundesverfassungsgericht mehrere Klagen gegen das Suizidbeihilfeverbot vor, eine Entscheidung soll im Herbst 2017 fallen. Neben Organisationen wie der Bundesärztekammer gehört der Humanistische Verband zu den "gesellschaftlich relevanten Akteuren", die vom Bundesverfassungsgericht um Stellungnahme gebeten wurden.