Die Schafe fliehen in Scharen vor den Hirten

2018 haben die beiden christlichen Großkirchen weit über eine halbe Million Mitglieder verloren und die Austrittszahlen sind die zweithöchsten der Nachkriegsgeschichte - nur ein gewisser Bischof mit einer goldenen Badewanne schlug 2014 noch mehr Gläubige in die Flucht. Überraschend kommt das nicht, die Kirchenvertreter zeigen sich zerknirscht und zum Teil selbstkritisch.

"NOCH mehr Menschen verließen die katholische Kirche nur während des Skandals um den Limburger Bischof Franz-Peter Tebartz-van Elst" – so beginnt ein alarmierter Kommentar auf katholisch.de, mit Großbuchstaben. Es zeigt die Fassungslosigkeit angesichts der erneut hohen Kirchenaustrittszahlen für das Jahr 2018.

216.078 Menschen verließen die Religionsgemeinschaft. Noch mehr Schäfchen haben sich allerdings aus dem evangelischen Pendant verabschiedet: Rund 220.000 schätzt die Evangelische Kirche Deutschlands (EKD). Zählt man diese beiden Angaben zusammen, kommt man auf 436.078 Menschen, die dem organisierten Christentum den Rücken gekehrt haben.

Eine stattliche Summe, 24 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Und das sind nur die Austritte. Aufgrund der demographischen Tatsache, dass in Deutschland mehr Menschen sterben als geboren werden und dass von den geborenen Kindern nur noch ein gewisser Teil getauft wird, ergibt sich ein Gesamtmitgliederverlust von 704.452, 395.259 bei den Evangelen, 309.193 bei den Katholen.

Aufgrund dieser gesellschaftlichen Entwicklung wären die Kirchenmitgliedschaften der Deutschen auch ohne aktive Kirchenaustritte rückläufig, schrieb die Giordano-Bruno-Stiftung (gbs) dazu.

Vor knapp zwei Wochen stellten die beiden großen christlichen Kirchen ihre Jahresstatistiken vor, die Forschungsgruppe Weltanschauungen (fowid) veröffentlichte wenige Tage später ihren Bericht zu Religionszugehörigkeiten in Deutschland für das vergangene Kalenderjahr. Demnach gehören zusammengenommen nur noch 53,2 Prozent der Bundesbürger einer christlichen Kirche an, während die Konfessionsfreien auf 38 Prozent anwuchsen.

Man muss kein Kirchenexperte sein, um dem Hauptgrund für die hohen Austrittszahlen einen Namen zu geben: Im Herbst 2018 erschien die von der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) herausgegebene Missbrauchsstudie und offenbarte Ausmaß und Systematik der jahrzehntelang vertuschten und kleingeredeten sexuellen Vergehen von Geistlichen an Minderjährigen. Das brachte sicherlich für viele Kirchenmitglieder das lang gefüllte Fass zum Überlaufen, zumal sich wenig später herausstellte, dass es auch in der evangelischen Kirche Missbrauchsfälle gegeben hatte.

Dass es einen Zusammenhang zwischen dem Missbrauchsskandal und den hohen Austrittszahlen gibt, vermuten auch einige katholische Amtsträger auf katholisch.de: Der Bischof von Mainz, Peter Kohlgraf, spricht ganz klar von "Verbrechen gegen Kinder, Jugendliche und Schutzbefohlene". Außerdem überzeugten die "traditionellen Argumente" bei den "Reizthemen" Frauenordination, Homosexualität oder Zölibat viele Menschen nicht. Andere stürzen sich lieber in altgewohnten missionarischen Eifer: Ludwig Schick, Erzbischof von Bamberg, wird folgendermaßen zitiert: "Wir müssen die Statistik als Weckruf zu mehr Engagement für das Evangelium und den Glauben betrachten. Wir brauchen neue Impulse in der Pastoral, insbesondere bei der Seelsorge für Familien, damit Eltern ihre Kinder taufen lassen und in die Kirche einführen." Manche schmollen auch, man hätte in einer oberflächlichen Welt heute einfach keine Relevanz mehr für die Menschen, während der Oberhirte von Passau, Stefan Oster, einen verzweifelten Appell an seine Schäfchen richtet: "Bleiben Sie! Bringen Sie sich ein, ringen Sie mit Ihrer Kirche."

Besonders selbstkritisch zeigt sich auch der Eichstätter Bischof Gregor Maria Hanke und spricht neben dem "unsäglichen Missbrauchsskandal" davon, dass der "Finanzskandal in seiner Diözese (...) viel Vertrauen nachhaltig beschädigt" habe. Damit benennt er einen weiteren Vorfall, bei dem sich die katholische Kirche nicht gerade mit Ruhm bekleckert hat: Ein Mitarbeiter hatte 50 Millionen Euro in dubiose Geschäfte in den USA investiert und sich verzockt.

Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der EKD, bedauerte den anhaltenden Mitgliederschwund: "Jeder Austritt schmerzt", sagte er laut Pressemitteilung seiner Kirche. Man müsse deutlich machen, warum die christliche Botschaft eine so starke Lebensgrundlage sei, da die Menschen, anders als früher, aus Freiheit entschieden, ob sie der Kirche angehören wollten. Mit anderen Worten: Auf einmal muss man sich um seine Steuerzahler bemühen und sich dem Wettbewerb mit anderen Weltanschauungen stellen. Wenn man es nicht besser wüsste, man könnte sich dabei ertappen, ein unterbewusstes "leider" in dem Satz mitschwingen zu hören.

Ohne die Menschen, die bewusst Kirchenmitglieder seien, wäre das Land ärmer und kälter, so der Landesbischof weiter. "Mehr denn je ist unsere Gesellschaft auf Menschen angewiesen, die aus der festen Hoffnung ihres Glaubens auf eine bessere und gerechtere Welt leben", glaubt er. In der evangelischen Kirche scheint man noch im Stadium des Schönredens verhaftet zu sein. Dazu passt auch der Schlusssatz der Pressemitteilung: Aufgrund stärkerer Zuwanderungsströme aus dem Ausland verliere die katholische Kirche geringfügig weniger Mitglieder als die evangelische – diesen Seitenhieb konnte man sich bei aller Ökumene wohl nicht verkneifen. Ob es wirklich nur daran liegen kann, wenn man trotz eines bei der Konkurrenz überbordenden Missbrauchsskandals, der dagegen im eigenen Verein bisher nur als Randerscheinung wahrgenommen wird, mehr Mitglieder verliert, sei dahin gestellt.