Interview

"Krisenzeiten sind immer ein Katalysator für krude Theorien"

Am letzten Wochenende demonstrierten in Berlin rund 20.000 Menschen gegen die Einschränkungen, die die Corona-Krise mit sich bringt. Der hpd sprach mit Giulia Silberberger vom "Goldenen Aluhut" über die Querfront aus Esoterikern, Verschwörungsideologen, Reichsbürgern und Ultrarechten, die sich auf der Kundgebung tummelten.

hpd: Am vergangenen Wochenende demonstrierten nach Angaben der Polizei rund 20.000 Menschen für das Ende der Corona-Pandemie. Einmal davon abgesehen, dass eine Demonstration gegen ein Virus ziemlich fragwürdig ist: Was und wer genau steckt hinter den Protesten?

Giulia Silberberger: Aufgerufen hat zur Demonstration ja die Stuttgarter Initiative "Querdenken 711" unter Organisator Michael Ballweg, der bereits von Veranstaltungen aus Baden-Württemberg bekannt ist und nun sogar angekündigt hat, als Oberbürgermeister zu kandidieren.

Schon im Frühjahr machte diese Gruppe mit ihren rechtsoffenen Veranstaltungen von sich reden. Esoteriker, Verschwörungsideologen, Reichsbürger und Ultrarechte finden sich unter den Teilnehmenden und bilden hierunter eine Querfront, wie wir sie bereits von den sogenannten Mahnwachen und Friedensdemos von vor ein paar Jahren kennen.

Diese Menschen eint der Widerstandsgedanke, das Aufbegehren gegen den (längst gelockerten) Lockdown, die (ebenso längst gelockerten) Restriktionen, die Maßnahmen der Regierung, die sie für vorgeschobene Gründe halten, um uns zu knechten, zu unterdrücken oder von mir aus auch zwangszuverchipen. Wen stört es da, dass gleich das gesamte Virus geleugnet wird, während es laut anderer eigentlich nicht schlimmer sein soll als eine "normale Grippe"?

Einig ist man sich darin, dass wir "von denen da oben" alle belogen und betrogen werden und das scheint hier vollkommen ausreichend zu sein, um sich zusammenzutun. Wer sich ein wenig in der verschwörungsideologischen Welt auskennt, der weiß, es gibt für diese Leute viele vermeintliche Gründe, Widerstand zu leisten (von Chemtrails über die Q-Anon-Mythen bis Zwangsimpfungen) und das machen sich nicht nur die Veranstalter zunutze.

Viele rechte Gruppierungen rufen offen dazu auf, sich an den Querdenker-Demos zu beteiligen, was von den Organisatoren weder untersagt noch sich dagegen positioniert wird. Im Gegenteil, man rühmt sich mit Toleranz und so kommt es, dass wir neben den klassischen verschwörungsideologischen Aussagen wie der Leugnung der Souveränität Deutschlands und den "Gib Gates keine Chance"-Plakaten auch Reichs- und Reichskriegsflaggen und das ein oder andere selbstgebastelte Hakenkreuz vorfinden.

Am Rande der Kundgebung kam es zu gewalttätigen Übergriffen auch auf Pressevertreter. Du hast die Veranstaltung ja im Livestream beobachtet. Wie war Dein Eindruck?

Ich habe Samstag und Sonntag die Livestreams der Veranstaltung vom späten Vormittag bis zum offiziellen Ende am späten Abend verfolgt (YouTube: Stefan Bauer und Samuel Eckert) und ein Bild ist mir besonders in Erinnerung geblieben, weil es das Mindset dieser Demo wunderbar einfängt: Ein völlig friedlich wirkendes Paar läuft in weiter, alternativer Kleidung über das Gelände und trägt dabei ein Plakat, auf dem aus einem Roten Kreuz ein Hakenkreuz gebastelt wurde, indem man an die Enden des Kreuzes eine Maske ("Maulkorb"), eine EC-Karte (Bankenkontrolle und Bargeldabschaffung), eine Kamera (Totalüberwachung) und eine Spritze (Zwangsimpfungen und Big Pharma) platzierte. Das Ganze strich man durch. Die traurige Ironie: nicht weit von dem Paar entfernt waren Teilnehmende mit Reichskriegsflaggen im Zug zu sehen. Auf Facebook gibt es ein Foto des Paars.

Wer sich die Dokumentation von Dunja Hayali vom Samstag auf Instagram angesehen hat, sieht viele vordergründig friedliche Demonstrierende, die jedoch inbrünstig ihre Hasstriaden über Frau Hayali ergossen, sodass sie ihren Dreh aus Sicherheitsgründen abbrechen und unter "Lügenpresse"-Rufen den Platz räumen musste. Auch n-tv und andere Berichterstatter mussten aus Sicherheitsgründen ihre Vor-Ort-Reportagen abbrechen, Beistehende und Maskentragende wurden beschimpft, ein Reporter vom RBB sogar bespuckt.

In Anbetracht der Tatsache, dass wir uns mitten in einer weltweiten Pandemie befinden und man auf dieser Demo bewusst keine Hygieneregeln eingehalten hat, ist es für mich nicht in Worte zu fassen, wie ich es finde, wenn Vertreter der freien Presse bespuckt werden. Wie aufgeheizt die Stimmung war, merkte man auch in dem Moment, als von der Bühne verkündet wurde, die Veranstaltung sei jetzt beendet. Zwar kooperierte der Veranstalter vordergründig zuerst mit der Polizei, ließ aber keinen Zweifel an der Botschaft, dass man mit dem ganzen Vorgehen nicht einverstanden sei und so reckten sich sofort Fäuste in die Höhe und Rufe wurden laut: "Zum Reichstag", "auf zum Kanzleramt". Offen wandte man sich auch an die Polizei und skandierte immer wieder "Schließt euch uns an" und bis spät in den Abend hinein fing der Stream Personen ein, die sich direkt an die Beamten wandten und versuchten, sie zum Widerstand aufzufordern.

Auf der Kundgebung am Sonntag vor dem Brandenburger Tor wurde sich erneut an die Polizeikräfte gewandt, diesmal als "Bürger in Uniform" weil die Berliner Polizei ihnen untersagt hat, das Wort "Polizei" zu verwenden (Quelle: Livestream Samuel Eckert), und einen Verein angekündigt, der Staatsdienern den Ausstieg aus "dem System" ermöglichen soll.

Auch wenn diese Demonstration also von sich behauptet, für Frieden, Freiheit und Demokratie einzutreten, so sprechen die Bilder der Berichterstattung und die eigenen Livestreams der Veranstalter eine ganz andere Sprache.

Nach der – meiner Meinung nach viel zu spät – von der Polizei aufgelösten Kundgebung kursierten Fotos im Netz, mit denen versucht wurde, die Teilnehmerzahlen viel höher anzugeben, als sie tatsächlich waren. Es gab dabei sogar Fotos, die nicht einmal in Berlin, ja, nicht einmal in Deutschland aufgenommen wurden. Trotzdem gibt es offenbar Menschen, die den Fotos Glauben schenken und den Vorwurf, Fake-News zu verbreiten, vehement abstreiten. Was kannst Du über die Fotos und Eure Gegenrecherche sagen?

Screenshot
Screenshot: Facebook

Im Demonstrationszug machte kurz nach Mittag das Gerücht die Runde, dass die Polizei offiziell bestätigt hätte, die Veranstaltung hätte 800.000 Teilnehmende. Der Interviewende des Livestreams sprach mehrere Personen aufgeregt darauf an, ob sie schon gehört hätten, die Polizei hätte bestätigt, ja, fast eine Million Leute. Nein, antworteten die Leute meist, das hätten sie noch nicht gehört, aber das sei ja super!

Ich weiß nicht, wer das Gerücht in die Welt gesetzt hat, aber es hat sich wie ein Lauffeuer im Demonstrationszug verbreitet. Irgendwann wurden aus den 800.000 1,3 Millionen und ein ganz Mutiger sprach sogar von fünf Millionen. Parallel wurde ein Tweet der Berliner Polizei gefälscht (genau genommen mit Photoshop bearbeitet), dass man 1,3 Millionen Teilnehmende hiermit offiziell bestätige. Ich persönlich denke auch, dass es mehr als 17.000 gewesen sind, aber keinesfalls mehr als 50.000, geschweige denn 1,3 Millionen. Das wäre ein Drittel der Bevölkerung Berlins. Dazu war schlicht in der Peripherie zu wenig los, zum Beispiel in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Auch wer sich die offiziellen Fotos aus der Vogelperspektive ansieht merkt sofort: das ist vollkommen utopisch.

Man ist in verschwörungsideologischen Kreisen ja schnell dabei, Bilder zu zweckentfremden und so fanden sich bei Twitter und Facebook sehr schnell Fotos von der Loveparade und sogar Bilder von der Street Parade in Zürich wieder, die Menschenansammlungen von oben zeigten. Zürich fand ich besonders kreativ. Als Berliner möchte ich sofort fragen, wo in unserer Stadt so schöne Luxusschiffe ankern. Ich würde sie gerne mal bewundern.

Wenn man die vermeintlichen Demofotos durch die Google-Bilderrückwärtssuche schickt, was bei Bildern der Straße des 17. Juni und der Siegessäule zugegeben etwas mühsam sein kann, kommt man dem Fake aber schnell auf die Schliche. Das ist keine Hexerei, aber je nach Motiv ein wenig Sisyphos-Arbeit. Gerade bei Bildern, bei denen man nicht sicher ist, ob sie in Berlin aufgenommen wurden, sollte man zusätzlich ruhig noch mal mit Google Maps und Street View nachschauen, ob die Örtlichkeit auch wirklich mit dem tatsächlichen Veranstaltungsort übereinstimmt. Vorsicht auch, wenn Fotos anderer Demonstrationen verwendet werden. Attila Hildmann teilte beispielsweise Bilder der Fridays-for-Future-Demos in Berlin und behauptete, sie wären von der Corona-Großdemo. Dabei machte er sich nichtmal die Mühe, die Bilder zu bearbeiten.

Weshalb sind Menschen so leicht zu beeinflussen und weshalb wollen sie an falsche Aussagen glauben?

Eine Frage, über die schon die großen Philosophen vergangener Zeiten gerätselt haben, zu der geforscht wird und die auch ich natürlich nicht abschließend beantworten kann.

Ich glaube, die wenigsten von denen, die am Wochenende die Demonstration besucht haben, sind eines Morgens aufgestanden und haben geglaubt, dass wir alle zwangsverchipt werden sollen oder dass ein "Deep State" hier die Strippen zieht. Das ist vielmehr das Ende eines Prozesses an dessen Anfang oft etwas ganz anderes stand: Eine Enttäuschung, ein Schicksalsschlag, eine geschickt platzierte Lüge, die die Antwort auf eine so lang gestellte Frage geliefert hat. Eine Fake-News im Netz, die ihren Leser oder ihre Leserin empört hat, die auf mangelndes Wissen oder ein subtiles Gefühl von "Das hab ich mir schon immer gedacht" traf, und dessen Saat schlicht aufgegangen ist.

Und Krisenzeiten sind immer ein Katalysator für krude Theorien, weil die Menschen verängstigt sind, ihres Sicherheitsempfindens beraubt sind und ihre Existenzen in Gefahr sehen. Dass die weltweite Wirtschaft unter der Krise leidet und viele Jobs verloren sind, ist nicht von der Hand zu weisen. Jedoch steckt dahinter kein Plan einer geheimen Schattenregierung oder dunkler Strippenzieher, es ist eine Auswirkung der Krise selbst.

Aber für die Menschen ist es eine emotionale Erleichterung, die Schuld auf jemanden schieben zu können, der greifbar ist. Die berühmte Hexe, die man verbrannt hat, nachdem ein Unwetter die Ernte vernichtet hat. Und die Regierung und ein Mr. Gates sind nun mal greifbarer als ein Covid-19-Erreger.

Und wie schon gesagt einen sie sich hier in ihrem Widerstandsgedanken. "Wir da unten" versus "Die da oben", die Spaltung, die verbindet. Da ist es dann auch egal, dass man eigentlich auf völlig verschiedenen Positionen steht. Der Feind meines Feindes ist mein Freund und man radikalisiert sich gegenseitig in dieser fragwürdigen Freundschaft.

Ich finde es auch sehr schade, dass sich mit Sicherheit wieder viele Menschen unter den Demonstrierenden eingefunden haben, die eigentlich gar nicht zum verschwörungsideologischen Spektrum gehören, aber ihrem Unmut über die aktuelle Lage einfach gerne Luft machen möchten, gehört werden wollen. Aber nur, weil einem das Tafelwasser nicht schmeckt, muss man doch nicht gleich aus der Toilette trinken. In diesem Land hat jeder das Recht, selbst eine Kundgebung anzumelden und für seine Branche oder Industrie ein Zeichen zu setzen, solange man sich an die Auflagen hält. Zum Beispiel die "Night of Lights".

Was kann man entgegnen, wenn Verwandte, Freunde oder auch Fremde davon überzeugt sind, auf der "richtigen Seite" zu stehen? Als Beispiel: Ich traf Samstagabend in der S-Bahn Menschen, die offensichtlich von der Kundgebung kamen und ohne Mundschutz in der Bahn saßen (hier ist im Übrigen auch zu fragen, weshalb an dem Tag nicht kontrolliert und kassiert wurde). Als ich sie bat, einen Mundschutz aufzusetzen, nannten diese mich "Verschwörungstheoretiker" – eine vollständige Umkehrung der Tatsachen.

Es wird immer grotesker und diese Verdrehung und Umkehr der Tatsachen lässt einen zugegeben oftmals sprachlos zurück. Ein wenig wie im Kindergarten. "Du bist der Schwurbler." – "Nein, du bist der Schwurbler." Ich glaube, ich würde mich in dem Moment einfach umdrehen und gehen. Es ist auch fraglich, ob man an so jemanden überhaupt noch herankommt. Als Außenstehende/r sicherlich nicht. Da hat sich bereits ein komplettes Weltbild gefestigt, das nun verteidigt wird wie ein Gott. Diese Diskussionen habe ich schon zu oft geführt, um sie noch führen zu wollen.

Deswegen ist unsere Devise auch die Präventivarbeit. Menschen davor schützen, auf verschwörungsideologisches Gedankengut hereinzufallen, indem wir davor warnen, welche Fallen ausgelegt sind, wohin sie führen und wie man solche Meldungen wie zum Beispiel, dass das Virus nicht existiert, auf ihren Wahrheitsgehalt hin prüft. Wer ein gutes Rüstzeug in Sachen Faktencheck mit sich führt, ist weniger gefährdet auf einen Fake hereinzufallen, der unter Umständen das Tor in eine ganze verschwörungsideologische Welt aufstößt.

Ich empfehle in meinen Workshops zum Umgang mit Fake-News und Verschwörungsideologien drei Stützpfeiler: Besonnenheit, Faktencheck, Selbstreflexion.

Besonnenheit: Nicht alles, was wir im Netz lesen, ist wahr und nicht jeder, der mal eine Fake-News teilt ist gleich ein glühender Verschwörungsideologe. Schaut genau hin, vermeidet in der Diskussion die klassischen Keulen wie "Nazi" oder "Aluhut" und bleibt stets sachlich und respektvoll – auch wenn es schwerfällt (und das tut es, ich weiß).

Faktencheck: Keine Gegenrede ohne Gegenrecherche. Man sollte natürlich wissen, wovon man spricht und belegt seine Argumente idealerweise mit validen Quellen. Vielleicht hat auch schon eine Faktencheck-Seite wie der Faktenfinder der Tagesschau oder Mimikama etwas dazu geschrieben. Checkt die Faktenchecker und ihre Quellen. Gibt es schon offizielle Statements, Studien oder Gegendarstellungen? Stellt in Diskussionen auch ruhig W-Fragen: Wieso, weshalb, warum, wer, wie kommst du darauf, mit welchen Mitteln und so weiter? Lasst euch dabei aber nicht zu sehr auf Nebenschauplätze entführen und von der schieren Masse der verschwörungsideologischen Informationen erschlagen, sondern bleibt bei den Hauptaussagen selbst. Denn wenn man dem Kartenhaus die Basis entzieht, fällt es (beispielsweise, dass das Virus gar nicht existieren würde) ganz schnell in sich zusammen.

Titelblatt der Broschüre

Titelblatt der angesprochenen Broschüre

Führt eure gesicherten Quellen gerade in öffentlichen Diskussionen an, um der breiten Mitleserschaft Informationen bereitzustellen. Ihr überzeugt vielleicht nicht euren Diskussionspartner, aber man sollte bedenken, dass viele Leute verunsichert und im Netz unterwegs sind, weil sie sich Antworten auf ihre Fragen erhoffen. Also sollten wir sie ihnen geben, bevor es die Fake-News-Portale mit ihren emotionalen Ködern tun.

Selbstreflexion: Wenn man einen Fake als Fake entlarvt hat und sich immer noch von ihm angesprochen fühlt, sollte man ruhig mal in sich gehen und sich fragen, welchen Mehrwert man davon hat, das zu glauben. Welche vorgefertigten und eventuell falschen Meinungen bestätigt die Meldung? Trifft sie auf einen Triggerpunkt? Kurz: wieso möchte ich glauben, dass XYZ wahr ist, obwohl mir gerade belegt wurde, dass es falsch ist? Das ist immer auch ein bisschen eine Reise in die Abgründe unseres Selbst und ich kann verstehen, wenn das für einige Menschen schwer und schmerzhaft ist.

Aber da der Kampf gegen Fake-News und Verschwörungsideologien kein rein faktenbasierter ist, kommen wir nicht umhin, uns langfristig mit den Gründen für das Glauben selbst zu beschäftigen.

Ich könnte an dieser Stelle noch sicherlich Unmengen an virtuellen Seiten füllen, möchte aber gerne auf unsere kostenlose Broschüre verweisen: "Verschwörungsideologien und Fake News – erkennen und widerlegen". Das ist ein kleines Handbuch für den Umgang mit Schwurbel, Geschwurbelten und das Faktenchecken.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Frank Nicolai für den hpd.

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