Plakatkampagne will Parlamentarier zum Einlenken in Sachen Sterbehilfe bewegen

Schmidt-Salomon: "Ein Musterbeispiel für christlichen Lobbyismus"

OBERWESEL/BERLIN. (hpd) Selten war die Kluft zwischen Bevölkerung und Politik so offensichtlich wie in der Frage der Sterbehilfe. Dies verdeutlicht eine Plakataktion der Giordano-Bruno-Stiftung (gbs), die am heutigen Mittwoch in Berlin startete.

Die Plakate zeigen Bundeskanzlerin Angela Merkel, den Sterbehelfer Uwe-Christian Arnold ("Letzte Hilfe") und Dignitas-Gründer Ludwig A. Minelli mit geschlossenen Augen. Im Fall von Arnold und Minelli signalisiert das Bildmotiv, dass beide die vor einem Jahr gestartete "Kampagne für das Recht auf Letzte Hilfe" unterstützen. Im Fall von Angela Merkel zeigt es an, dass die Kanzlerin die Augen davor verschließt, dass 80 Prozent der deutschen Bevölkerung gegen die geplante Kriminalisierung professioneller Freitodbegleitungen votieren. Bürgerwille und Politik gehen in dieser Frage so weit auseinander, dass man sich an die berühmten Worte Bertolt Brechts erinnert fühlt: "Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?"

Rhetorisch fragt die gbs-Kampagne, ob Uwe-Christian Arnold und Ludwig A. Minelli denn wirklich als "Verbrecher" behandelt werden sollen, weil sie schwerstleidenden Menschen helfen, ihren letzten Wunsch umzusetzen und selbstbestimmt zu sterben. Dass diese Hilfe nach der von Angela Merkel favorisierten Gesetzesvorlage mit mehrjährigen Haftstrafen geahndet werden soll, bezeichnete der Leiter der Kampagne, der Philosoph und GBS-Vorstandssprecher Michael Schmidt-Salomon, als "ethisch unverantwortlich", da ein solches Gesetz viele Menschen in harte Verzweiflungssuizide treiben würde. Zudem sei es "zutiefst undemokratisch", da die Befürworter des neuen Strafgesetzes "nicht nur das eindeutige Votum der Bürgerinnen und Bürger ignorieren, sondern auch die Mehrheitsmeinung der Experten. Immerhin haben sich mehr als 140 deutsche Strafrechtslehrer in einer gemeinsamen Resolution gegen die Einführung eines neuen Strafrechtsparagraphen ausgesprochen."

Politik vertritt Lobbyinteressen

Laut Schmidt-Salomon vertreten Angela Merkel, Hermann Gröhe und die Mehrheit der Parlamentarier in punkto Sterbehilfe "nicht die Interessen der Bürgerinnen und Bürger, die sie in ihr Amt gewählt haben, sondern die Interessen einer kleinen Gruppe von Lobbyisten, die eifrig an der Einführung eines neuen Strafgesetzes zur Kriminalisierung von Sterbehelfern mitgestrickt haben": "Neben Pharmaunternehmen, privaten Kliniken und Pflegeheimen, die keine Einbußen im lukrativen 'Geschäft mit der Leidensverlängerung' hinnehmen wollen, sind hier vor allem die christlichen Großkirchen zu nennen. Denn sie profitieren gleich zweifach von einem Verbot der Sterbehilfe– erstens wirtschaftlich als Betreiber von unzähligen Kliniken, Alters- und Pflegeheimen und zweitens ideologisch in ihrer Rolle als 'Wertevermittler'. Letztlich soll ja allen Bürgerinnen und Bürgern die Vorstellung aufgezwungen werden, dass wir über unser eigenes Leben nicht selbst verfügen dürfen, da es uns angeblich von 'Gott' geschenkt wurde."

Die deutsche Sterbehilfedebatte sei "ein Musterbeispiel für christlichen Lobbyismus und dessen fatale Wirkung auf die Politik", erklärte Schmidt-Salomon: "Kirchliche Kreise haben die Politiker viele Jahre bedrängt, ein Verbot der Suizidhilfe herbeizuführen. Schon lange vor dem Beginn der öffentlichen Debatte haben sie gemeinsam mit Klinikbetreibern und Pharmaunternehmen entsprechende Gesetzesentwürfe ausformuliert. Dabei hatten die Kirchen bezüglich der Durchsetzung ihrer Forderungen gegenüber anderen Lobbyisten einen entscheidenden Vorteil, da ihre Vertreter so sehr in die parlamentarische Arbeit integriert sind, dass sie auf der Liste der beim Deutschen Bundestag registrierten Lobbyisten gar nicht erscheinen. Folglich wird der christliche Lobbyismus als solcher gar nicht wahrgenommen, was den Kirchen ungemein geholfen hat, die deutsche Politik über Jahrzehnte hinweg stärker zu beeinflussen als jede andere außerparlamentarische Kraft."


Kirchenrepublik Deutschland

Angesichts der intimen Beziehung von Staat und Kirche sei es kein Wunder, "dass parlamentarische Stellungnahmen zur Sterbehilfe-Debatte oft wie Verlautbarungen von der Kirchenkanzel klingen und im aktuellen Bundeskabinett kein einziger konfessionsfreier Mensch zu finden ist", sagte Schmidt-Salomon. "Die Gremien des Staates und der Kirchen sind so eng miteinander verflochten, dass man mit Fug und Recht von einer 'Kirchenrepublik Deutschland' sprechen kann. Dieser Umstand erklärt auch, warum das Leben der Bürgerinnen und Bürger noch immer so stark im Sinne überkommener Kirchendogmen reglementiert wird – und zwar von der Wiege bis zur Bahre, ja, sogar darüber hinaus, wie die absurden Bestimmungen zum Umgang mit Embryonalzellen zeigen oder zum Umgang mit der Asche Verstorbener, die man aufgrund des kirchlich geforderten Bestattungszwangs nicht im eigenen Garten verstreuen darf."

Zur Plakataktion brachte die Giordano-Bruno-Stiftung eine Broschüre heraus, die den Zusammenhang von Sterbehilfeverbot und christlichem Lobbyismus kurz zusammenfasst (siehe Anlage). Ausführliche Hintergrundinformationen zum Thema finden Sie in dem Buch "Letzte Hilfe – Ein Plädoyer für das selbstbestimmte Sterben" von Uwe-Christian Arnold und Michael Schmidt-Salomon. Im November erscheint im Alibri Verlag zudem die Studie "Kirchenrepublik Deutschland" von Carsten Frerk, die sich mit dem bislang weitgehend übersehenen, aber überaus wirkmächtigen Phänomen des christlichen Lobbyismus auseinandersetzt.

Da in Deutschland mittlerweile mehr konfessionsfreie Menschen leben als Katholiken oder Protestanten und die Kirchen in der Bevölkerung kaum mehr Rückhalt finden, sei es an der Zeit, Staat und Kirche konsequenter voneinander zu trennen, meinte Schmidt-Salomon: "Die Bürgerinnen und Bürgern sollten die illegitime Dominanz kirchlicher Interessen nicht länger hinnehmen – zumal sich selbst Kirchenmitglieder mehrheitlich eine andere, freiheitlichere Politik wünschen!" Keineswegs dürfe es dabei bleiben, dass die Politik religiöse Partikularinteressen höher gewichte als die Interessen der Allgemeinheit.

Auf wessen Seite stehen die Abgeordneten?

Der GBS-Sprecher verband seine Stellungnahme mit einer deutlichen Warnung an die Parlamentarier: "Die Mitglieder des Deutschen Bundestags sollten nicht glauben, dass es im Verborgenen bleiben wird, wenn sie sich in Sachen Sterbehilfe gegen 80 Prozent der deutschen Bevölkerung und zugunsten einiger weniger Lobbyisten entscheiden. Wir werden die Namen derer, die im Parlament gegen die Selbstbestimmungsrechte des Individuums stimmen und Sterbehelfer zur Absicherung von Lobbyinteressen kriminalisieren möchten, veröffentlichen, damit den Bürgerinnen und Bürgern bei der nächsten Wahl klar ist, auf wessen Seite ihre Abgeordneten stehen."

Schmidt-Salomon zitierte in diesem Zusammenhang aus der E-Mail eines CDU-Bundestagsabgeordneten, der, nachdem er den "assistierten Suizid" peinlicherweise mit der verbotenen "aktiven Sterbehilfe" verwechselt hatte, erklärte, er würde sich "am Diskurs des wissenschaftlichen Schönredens" nicht beteiligen. Seine Entscheidung zugunsten eines Verbots von Freitodbegleitungen sei ohnehin längst gefallen, was er ebenso kurz wie naiv begründete: "Ich muss mein Votum vor meinem Gewissen und vor meinem Gottesglauben rechtfertigen."

"Wer so denkt und handelt, gehört nicht in den Deutschen Bundestag, sondern auf die Kirchenkanzel!", kritisierte Schmidt-Salomon. "Unsere Parlamentarier sollten doch zumindest so viel Professionalität besitzen, dass sie wissen, dass sie sich in ihrem politischen Handeln nicht vor einem wie auch immer gearteten Gott, sondern vor ihren Wählerinnen und Wählern rechtfertigen müssen. Wer diesen Unterschied nicht begreift, bringt nicht die erforderlichen Qualifikationen mit, um den Beruf eines Politikers in verantwortlicher Weise ausüben zu können!"

Als Vorbild empfahl Schmidt-Salomon den deutschen Sterbehilfe-Gegnern den Gouverneur von Kalifornien, Jerry Brown, der als bekennender Katholik und ehemaliger Student eines Jesuitenkollegs Anfang Oktober den End of Life Option Act unterschrieb, ein Sterbehilfegesetz, das es den 39 Millionen Kaliforniern nun erlaubt, mit der Unterstützung von Ärzten selbst über ihr Lebensende zu entscheiden. In seiner Botschaft ans Parlament erklärte Brown: "Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn ich unter längeren und qualvollen Schmerzen zu sterben hätte. Ich bin mir jedoch sicher, dass es ein Trost wäre, die Möglichkeiten erwägen zu können, welche dieses Gesetz bietet. Und ich möchte dieses Recht anderen nicht verwehren." Soviel Anstand und Respekt gegenüber ihren Wählerinnen und Wählern sollten, so Schmidt-Salomon, auch christliche Politiker in Deutschland aufbringen können.