Angesichts von Neoliberalismus und Rechtsruck

Gregor Gysi fürchtet eine "gottlose Gesellschaft"

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Gregor Gysi bei einer Demo in Berlin
Gregor Gysi

"Ich glaube zwar nicht an den da oben, aber ich fürchte eine gottlose Gesellschaft", sagte Gregor Gysi am Dienstagabend bei "Markus Lanz". Er begründete seine Befürchtung damit, dass die Religionsgemeinschaften die einzigen wären, die in der Lage seien, allgemeingültige moralische Werte aufzustellen.

Der langjährige Fraktionsvorsitzende der Bundestagsfraktion von Die Linke erklärte weiter, dass ihm keine andere Instanz einfiele, die ein solches Wertegerüst aufstellen könnte, als die Kirchen. Der Kapitalismus könne das nicht, der Sozialismus ebenso wenig.

Für die im Koordinierungsrat säkularer Organisationen versammelten Verbände und Organisationen ist Gysis Aussage ein Hohn. Seit Jahren weisen sie immer wieder darauf hin, dass die Werte und Normen einer menschlichen Gesellschaft kein religiöses Fundament benötigen. "Ethische Verantwortung und sinnstiftende Lebensführung sind kein Alleinstellungsmerkmal der Religionen", lautet einer der Grundsätze des Bündnisses. Der bekennende Katholik Lanz – der in keiner seiner Sendungen vergisst, Gott mit ins Spiel zu bringen – zeigte sich hingegen hocherfreut über die unverhoffte Nähe zwischen seiner persönlichen Position und der Gysis.

Die Diskussion in der abendlichen Talksendung war vor dem Hintergrund der Geschehnisse in den USA seit der Amtsübernahme von Donald Trump und der Suche nach der Ursache der Spaltung der amerikanischen Gesellschaft entstanden. Die Gäste der Sendung, neben Gysi der Politologe Christian Lammert, der Schriftsteller Martin Suter und die Journalistin Sabine Anton waren sich schnell einig, dass die Verunsicherung der Menschen und ihre Abwendung von den politischen Eliten ihren Ursprung in der neoliberalen Umgestaltung der Gesellschaft haben.

Vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Rechtsrucks und der zunehmenden Stimmungsmache gegen Muslime ist Gysi seit einigen Wochen auf einer Art Mission. Bereits vor zwei Wochen hatte er in der Leipziger Michaeliskirche erkärt, dass er "eine gottlose Gesellschaft ganz furchtbar fände" und dies in einem Interview zur Rede in den Kontext der zunehmenden Verrohung der Gesellschaft gestellt. "Erstens sind die Religions- und Kirchengemeinschaft Bestandteil unserer Kultur, und zweitens sind zurzeit nur die Kirchen- und Religionsgemeinschaften in der Lage, allgemeinverbindliche Moralnormen aufzustellen. Die Linke konnte das mal, aber seit dem Scheitern des Staatssozialismus kann sie zwar Moralnormen aufstellen, die sind dann nur nicht allgemeinverbindlich. Der Kapitalismus ist auf Konkurrenz aus, das heißt, für den einen ist es besser, wenn der andere pleitegeht; auch das hat alles wenig mit Moral zu tun. Wenn wir also die Kirchen und die Religionsgemeinschaften nicht hätten, gäbe es keine verbindliche Moral."

Zu lange habe man die abstrakten Ängste der Menschen unterschätzt, erklärte Gysi weiter, um dann in den Modus der politischen Appellation überzugehen: "Politik, Kirchen, Gewerkschaften, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst und Kultur: Wir müssen begreifen, dass es gemeinsame Aufgaben gibt, wenn wir einen Rechtstrend in Deutschland und damit auch in Europa stoppen wollen." Möglicherweise will Gysi mit diesem Argument die Kirchen stärker in die Verantwortung für den gesellschaftlichen Frieden holen.

Seit Dezember 2016 ist Gysi Präsident der Europäischen Linken, die seine Äußerungen möglicherweise etwas kritischer sehen. Nach einem Arbeitstreffen im Februar 2015 hatten diese erklärt, dass eine der Hauptsäulen im Kampf gegen reaktionäre Kräfte, religiösen Fundamentalismus und die Spaltung der Gesellschaften durch rechtspopulistische Kräfte darin bestehe, den Säkularismus zu stärken. Man müsse die Philosophie der Aufklärung gegenüber obskuren religiösen Ansichten stärken, heißt es in der entsprechenden Meldung.

Der beliebte Politiker und Jurist Gregor Gysi ist ein bekennender "nichtreligiöser Mensch". Er ist zugleich aber auch bekannt für seine unvoreingenommene Offenheit gegenüber anderen weltanschaulichen Positionen. Im gesellschaftlichen Miteinander plädiert er in seinen Reden vorrangig nicht für Toleranz im Sinne eines "Erduldens fremder Überzeugungen" sondern für einen respektvollen, d.h. wertschätzenden Umgang miteinander.

Erst im September hatte er im Bundestag noch einmal grundsätzlich Stellung zur Religions- und Glaubensfreiheit genommen. Zu dieser gehöre auch, "dass Religion freiwillig ist" und man sich "also auch entscheiden darf, nicht religiös zu sein", erklärte Gysi in seiner Rede. Vor dem Hintergrund der Diskussion um ein Kopftuch- oder Burka-Verbot erklärte der Berliner Politiker außerdem, dass sich der Staat nicht in Kleiderfragen einmischen sollte. "Das Notwendige müssen wir regeln und ansonsten die Freiheit der Menschen, einschließlich der Religions- und Glaubensfreiheit sowie des Rechts auf Freiheit von der Religion, achten."

Gysi war am letzten Wochenende ohne Gegenstimmen zum Direktkandidaten der Linken in Treptow-Köpenick gewählt worden.