Zur Antwort der Linken auf den Offenen Brief von Migrantinnen für Säkularität und Selbstbestimmung

Religionskritik darf in einem modernen Staat nicht verunmöglicht werden

Anlässlich des Frauenkampftags haben die drei Autorinnen, Migrantinnen für Säkularität und Selbstbestimmung, einen Offenen Brief an die Parteivorsitzenden der Linken, der Grünen und der SPD adressiert, der von 37 säkularen Frauen mitunterzeichnet wurde. Eine Antwort kam nach fünf Monaten lediglich von der Linkspartei, die sämtliche der im Brief angeprangerten Missstände umschifft.

Im Brief machten wir auf den zunehmenden Einfluss des fundamentalistischen und politischen Islam unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit aufmerksam. Wir thematisierten die daraus resultierende Gefahr insbesondere für säkulare und atheistische Migrant_innen aus sogenannten muslimischen Ländern, für LGBTQI sowie für in patriarchalen Strukturen verhaftete muslimische Mädchen und Frauen in Deutschland. Weiterhin wiesen wir auf die zahlreichen Diskriminierungs- und Gewaltformen hin, denen viele muslimisch sozialisierte Mädchen und Frauen ausgesetzt sind – ob ausgehend von der Mehrheitsgesellschaft oder auch der eigenen Community. Wir erinnerten daran, dass Frauenrechte als fundamentale Menschenrechte universal, unverhandelbar und unterschiedslos für alle Frauen gelten müssen.

Nach fünf Monaten hat uns ausschließlich die Vorsitzende der Linkspartei, Katja Kipping, geantwortet. Die Tatsache, dass von sechs Adressierten bisher nur eine geantwortet hat, ist bereits Grund genug zur Enttäuschung. Noch ernüchternder ist, dass die einzige erhaltene Antwort sämtliche von uns angeprangerten Missstände umschifft.

Das Vermengen von Kritik am Islam mit Rassismus ist eine rhetorische Strategie der Islamisten

Wie zu erwarten, liest sich Frau Kippings Antwort von Anfang bis Ende, als sei sie von einem Kommunikationscoach für Politiker_innen verfasst. Anstatt auf unsere Argumente einzugehen, übt sie sich in Semantik: "Anders als Sie meinen, sehe ich sehr wohl, dass es diese Diskriminierung gibt und dass auch Muslime/as davon betroffen sind. Egal, ob man dies als antimuslimischen Rassismus, als Islamophobie oder Islamfeindlichkeit bezeichnet – jeder dieser Begriffe hat eigene Schwächen oder ist durch strategische Indienstnahmen belastet –, aber die Behauptung, es gebe das dahinter stehende Phänomen nicht, finde ich falsch."

Das eigentliche Argument ist hier, dass Muslime in Deutschland Rassismus erführen und man diesen nun einmal irgendwie bezeichnen müsse. Mit Verlaub, Frau Kipping: Wir sind alle Migrantinnen – Sie müssen uns nicht erklären, dass es Vorbehalte und Anfeindungen gegen uns aufgrund unserer Herkunft gibt.

Ihre Antwort übersieht, dass wir diese Fremdenfeindlichkeiten ausdrücklich und begründeterweise von der Religionskritik trennen. Zum einen weil das Vermengen von Kritik am Islam mit Rassismus eine rhetorische Strategie der Islamisten ist und von ihnen ganz bewusst in diesem Sinne verwendet wird. Zum anderen, weil wir Religionskritik als eine wichtige Errungenschaft der Aufklärung betrachten, die in einem modernen Staat nicht verunmöglicht werden darf.

Selbstverständlich sind Anfeindungen gegen Anhänger_innen jedweder Religion zu verurteilen – bei der Verfolgung christlicher Minderheiten in den sogenannten muslimischen Ländern etwa spricht jedoch zurecht niemand von "antichristlichem Rassismus"! Dass ausgerechnet bezüglich der Ablehnung in Deutschland lebender Kurd_innen, Türk_innen, Syrer_innen, Iraner_innen, Nordafrikaner_innen etc. diese Verbindung hergestellt und über Begriffe wie "antimuslimischer Rassismus" gewissermaßen ex negativo eine panislamische Identität heraufbeschworen wird, sie also zu Muslim_innen zwangskollektiviert werden, scheint Frau Kipping nicht zu verstehen oder es stört sie nicht. Auf diese Weise macht sie sich damit zur Erfüllungsgehilfin der Islamisten und seiner politischen Vertreter_innen, die dies sehr wohl verstehen.

Zudem wirft Frau Kipping uns vor, kopftuchtragende Frauen paternalistisch zu behandeln: "Die von Ihnen vorgeschlagenen Verbote von Kleidungsstücken sehe ich skeptisch. Ich mache mir keine Illusion darüber, dass politischreligiöser Fundamentalismus auch Kleidung dazu nutzt, um Ideologien der Ungleichheit und häufig auch eine hierarchische Geschlechterordnung symbolisch zu befestigen. Und dennoch überzeugt mich eher der feministische Ansatz, niemand hat Frauen vorzuschreiben, was sie anzuziehen haben und was sie nicht anziehen dürfen."

Ein Schlag ins Gesicht jedes Emanzipationsgedankens

Diese Aussage ist ein Schlag ins Gesicht jedes Emanzipationsgedankens und geradezu peinlich für die Vorsitzende einer vermeintlich progressiven Partei. Somit macht sie auch den Kampf von Millionen von Frauen in den sogenannten muslimischen Ländern gegen den Schleier der Geschlechter-Apartheid – und das nicht selten trotz Gefährdung von Leib und Leben – zunichte. Ist das nicht eine raue Form von Eurozentrismus?

Die Vorstellung, das Kopftuch – welches den weiblichen Körper aufgrund seiner potenziellen sexuellen Reizwirkung als inhärent sündhaft stigmatisiert – wäre irgendwie zu rechtfertigen, kann nur als antifeministisch bezeichnet werden. Diese Ideologie der Ungleichheit nun auch noch zu erkennen und sie dennoch aus einer vermeintlich feministischen Perspektive beschützen zu wollen, erscheint uns umso antifeministischer. Eine solche Haltung auch noch mit der Unterstellung zu verknüpfen, dass Kritiker_innen des Kopftuchs den betroffenen Frauen Kleidungsvorschriften machen würden, grenzt an Absurdität: Wir kritisieren dieses vermeintlich religiöse Gebot unter anderem genau weil es Frauen mit uniformen Kleidungsvorschriften brandmarkt.

Die Linken-Vorsitzende hat das Narrativ der Islamisten leider schon verinnerlicht

Die individuelle Freiheit der Kleidungswahl, die Frau Kippings Argument voraussetzt, haben viele muslimischen Frauen weltweit – und das auch in Deutschland – schlicht und ergreifend nicht. Eben diese Freiheit ist es, für die wir mit unseren Namen und Gesichtern öffentlich und unter Inkaufnahme täglicher Anfeindungen einstehen. Wenn sie ausgerechnet daraus ableitet, dass wir diejenigen seien, die Kleidervorschriften verbreiten, zeigt das, dass die Linken-Vorsitzende das Narrativ der Islamisten leider schon verinnerlicht hat.

Sehr bedenklich ist die Antwort in Bezug auf das Kinderkopftuch: "Bei Kindern ist die Frage noch komplizierter. Politisch stellt sich die Frage, ob man ein Kleidungsstück wie das Kopftuch bei Minderjährigen durch ein formelles Verbot zum Symbol eines Kulturkampfes aufwerten sollte. Ist es nicht vielleicht erfolgversprechender, wenn Lehrkräfte Eltern im Gespräch überzeugen? Aufgabe des Staates ist es, junge Menschen in Kita und Schule zu selbstbewussten und reflektierten Menschen zu erziehen, die später selbst über Glaube, Konfession und Lebensstil entscheiden können."

Die Aussage, das Kinderkopftuch nicht zu einem Symbol des Kulturkampfes aufwerten zu wollen, ist in etwa so schlüssig, wie auf eine Ohrfeige nicht zu reagieren, um diese nicht zu einem körperlichen Angriff aufzuwerten. Selbstverständlich handelt es sich bei der rituellen Tabuisierung des weiblichen Körpers im vorpubertären Alter um eine massive Einschränkung des Rechts der Mädchen auf freie Entfaltung sowie um subtile psychische Gewalt. Hier scheint Frau Kipping vergessen zu haben, dass ihre Partei sich für die Aufnahme eines eigenständigen Kindergrundrechts in das Grundgesetz einsetzt, das das Kindeswohlprinzip und das Recht der Entwicklung beziehungsweise Entfaltung einer eigenständigen Persönlichkeit unter altersgerechten Lebensbedingungen enthält. So fragen wir uns, ob diese Kinderrechte für Mädchen aus muslimischen Familien nicht gelten sollen? Darüber hinaus auf diese Kindeswohlgefährdung nicht mit der gebotenen Vehemenz zu reagieren, heißt nicht, den Kulturkampf zu verhindern, sondern von feministischer Seite im Kulturkampf zu kapitulieren.

Die Aussage, das Kinderkopftuch nicht zu einem Symbol des Kulturkampfes aufwerten zu wollen, ist in etwa so schlüssig, wie auf eine Ohrfeige nicht zu reagieren, um diese nicht zu einem körperlichen Angriff aufzuwerten.

Wir verstehen, dass Frau Kipping keine weiteren gesellschaftlichen Konflikte auslösen möchte, jedoch scheint sie nicht zu erkennen, dass ausgerechnet ihre multikutrelle Haltung diejenige ist, die diese Entwicklung fördert: Damit die Radikalisierung in Deutschland und anderswo nicht auf einen Konflikt zwischen "Muslimen" und "Europäern" hinausläuft – also genau auf die Feindlinien, die durch Begriffe wie "Islamophobie" gezeichnet werden – muss er als politischer und gesellschaftlicher Konflikt zwischen Reaktionären und religiösen Fundamentalisten auf der einen Seite und säkularen Verfechter_innen der universalen Menschenrechte auf der anderen Seite verstanden und gekämpft werden.

Jeder sehende Mensch weiß, dass eine Auseinandersetzung unausweichlich ist; die Frage ist nur, ob wir sie zu einem Clash of Cultures zwischen AfD und Islamisten wie etwa die Muslimbruderschaft eskalieren lassen wollen oder wir sie im Sinne unserer säkularen freiheitlichen Demokratie führen wollen. Wenn Frau Kipping um des kurzfristigen sozialen Friedens und ihrer Bequemlichkeit Willen dieses Spannungsfeld vermeiden will, dann können wir ihren Abschied aus der Partei nur begrüßen. Auch machen wir uns weiterhin keine Hoffnung, dass sich mit einer neuen Spitze etwas ändern wird. Eine Partei, die Katja Kipping aufstellt, wird leider keine säkulare Person zur neuen Spitze erklären.

Ein "islamistophiler" Kurs mit Doppelstandard

Die einseitige Betrachtungsweise von Frau Kipping auf die von uns angesprochenen Themen tritt durch ihre Aufzählung von Übergriffen an kopftuchtragenden Frauen zutage. Vergessen, ja gar ignoriert werden Schicksale wie etwa das der 15-jährigen Shukran, die ihr Kopftuch in der Schule ablegte und dafür über Wochen von ihrer Familie im Keller eingesperrt und misshandelt wurde. Oder von der 16-jährigen Ebru, die ihr Kopftuch ablegte und einen Deutschen datete, und die daraufhin in der Türkei mit einem fremden 26-jährigen Mann verheiratet wurde. Das sollen nur zwei von etlichen Beispielen sein aus einem Alltag hier in Deutschland, der ihren Aussagen zufolge auch erst mal Alltag bleiben wird.

Wie erklärt die Linke den unzähligen muslimisch sozialisierten Mädchen und Frauen in Deutschland, dass sie die Kultur, in die sie hineingeboren wurden, gegen alle innere und äußere Kritik verteidigen, aber dass sie nicht einen einzigen Gedanken daran verschwenden, die Rechte derselben Mädchen und Frauen auf Freiheit und individuelle Selbstbestimmung gegen die Ansprüche ihrer Kulturen und Religionen durchsetzen?

Der aktuelle Trend scheint zu sein, auf einen "islamistophilen" Kurs mit Doppelstandard zu setzen. Wir, Migrantinnen für Säkularität und Selbstbestimmung, stehen im Gegensatz weiterhin für die universellen und unantastbaren Menschenrechte, insbesondere für die Rechte von Kindern, Frauen und LGBTQI. Und genau deshalb leitet sich daraus als einzige denkbare Konsequenz ab, alle geschlechtsspezifischen religiösen Kleidungsvorschriften für minderjährige Mädchen in den staatlichen Bildungsstätten zu verbieten und einen verpflichtenden Ethikunterricht unabhängig von der Konfession der Eltern einzufordern.

Das Fundament der bürgerlichen Gesellschaft – und damit übrigens auch das Fundament aller sozialistischer Reformversuche derselben Gesellschaft, für die Die Linke laut Eigenaussage steht – ist nicht nur Marktwirtschaft und gemeinsame Sprache, sondern war von Beginn an ein gemeinsamer säkular-demokratischer Wertekonsens, an dessen oberster Stelle die freie Entfaltung des Individuums steht. Unser Ziel ist, auch und gerade Mädchen aus muslimischen Elternhäusern eine Schule und einen öffentlichen Raum zu bieten, an dem sie diesen Prozess der Bürgerinnen-Werdung – im Zweifelsfall auch gegen den Willen der Eltern und der religiösen Gemeinschaft – angstfrei erfahren können.

Mit oder ohne die angeschriebenen Parteien werden wir, Migrantinnen für Säkularität und Selbstbestimmung, unser Engagement fortführen und appellieren an alle säkularen und feministischen Kräfte, die eine humanistische und universalistische Haltung vertreten, ihre Stimmen für die Gleichheit aller Menschen zu erheben.

Naïla Chikhi, unabhängige Referentin

Monireh Kazemi, Frauenrechtlerin

Fatma Keser, Feministin

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