Warum Menschen auch ohne Religion gut sein können

Anfang der Woche erschien im Hamburger Abendblatt ein Meinungsbeitrag unter dem Titel "Warum Religion unverzichtbar ist". Darin beschwört der Autor, der sich nach eigenen Angaben ehrenamtlich im interreligiösen Dialog engagiert, etwa bei der Kampagne "Muslime für Frieden", die vermeintlich positiven Effekte religiöser Indoktrination. Eine Gegenrede.

Ein verzweifelter Versuch, den Bedeutungsverlust von Religion in einer immer säkularer werdenden Gesellschaft aufzuhalten? Oder eine Apologie, die ein toxisches Element von Religion als etwas Positives erscheinen lassen will? Asif Malik, Geschäftsmann mit pakistanischen Wurzeln, ist wortgewandt. Man könnte ihm gar ein theologisches Talent attestieren, religiöse Inhalte der eigenen Argumentation anzupassen.

Religion ist paternalistische Gedankenkontrolle. Ein archaisches Machtsystem, geschaffen in einer Zeit, als man noch nicht per Spurensuche den Täter eines Verbrechens ermitteln konnte. Ein Geniestreich, sich eines unsichtbaren Übervaters zu bedienen, der alles sieht, auch das, was die damaligen Strafverfolger nicht sehen konnten. Ein Vorläufer ausgefeilter Rechtssysteme, die nach Möglichkeit eine Gesellschaft so strukturieren, dass niemand einem anderen oder der Gemeinschaft ungestraft schaden kann – ohne, dass dies je perfekt funktionieren könnte. Die religiösen Normen, die zahlreiche unfreiheitliche Elemente enthalten, wurden ihrer Allgemeingültigkeit enthoben und durch weltliche Rechtsnormen ersetzt. Und die funktionieren – denn die allermeisten Menschen halten sich an Gesetze.

Wer möchte, kann zusätzlich religiöse Wertesysteme nutzen, um das eigene Leben moralisch zu strukturieren. Nur dürfen religiöse Gesetze in einem säkularen Staat nicht über weltlichem Recht stehen. Doch auch ohne Religion sind wir nicht orientierungslos: Unsere Verfassung trägt bereits Werte in sich (Stichwort: Menschenwürde), in sie ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte eingeflossen, die ebenso klare Normen festlegt. Das übrige sollte die Erziehung durch die Eltern gewährleisten, der Weg durch das Bildungssystem und die Sozialisation in einer Gesellschaft, die dem Individuum vermittelt, welches Verhalten erwünscht ist und welches nicht.

Maliks Argumentation lautet nun: "Das Recht reagiert, wenn etwas geschehen ist. Religion will verhindern, dass es überhaupt so weit kommt." Sie setze früher an: nicht bei der Tat, sondern bei der Neigung. Ein Plädoyer also für religiöse Gedankenkontrolle. Diese erreicht man durch frühkindliche Indoktrination. Menschen, die im Laufe ihres Lebens in Konflikt mit den religiösen Gesetzen des ihnen anerzogenen Glaubenssystems geraten, kann das eine nicht unerhebliche psychische Belastung verursachen. Etwa, wenn sie feststellen, dass sie homosexuell sind, was in vielen Religionen verteufelt wird. Oder, wenn sie gegen religiöse Essensvorschriften verstoßen, obwohl sie sich eigentlich längst von diesen abgewandt haben. Diesen Psychoterror gutzuheißen, passt nicht zu einer freiheitlichen, modernen Gesellschaft.

Dass der Autor dieser nicht viel abgewinnen kann und kein Vertrauen in die Menschen hat, offenbart er einige Absätze später, wenn es heißt: "Denn viele Probleme unserer Zeit lassen sich nicht allein mit Gesetzen lösen: exzessiver Rauschmittelkonsum, entgrenzter Konsumwahn, sexualisierte Gewalt, brüchige Familienstrukturen, nrarzisstische Selbsverliebtheit – all das sind Symptome eines moralischen Vakuums", behauptet er da. Ein Abgesang auf die heutige Zeit also. Alles geht den Bach runter. Früher war alles besser. Und der alte Zopf Religion soll es richten? Haben religiöse Systeme Menschen je von einem Verhalten abgehalten, dass man heute zum Glück gesellschaftlich geächtet hat? Frauen unterdrücken? Kinder verstümmeln1? Im Gegenteil: Da sie ewig gültige Wahrheiten behaupten, sind sie leicht zu instrumentalisieren, um Menschengruppen dazu zu bringen, sich gegenseitig furchtbare Dinge anzutun – wenn Gott es angeblich so will. Während des Dritten Reiches waren 95 Prozent der Deutschen Christen. Nächstenliebe für die Verfolgten gab es trotzdem kaum. Malik spricht von einer Reflexionskraft der Religion, "die dem Einzelnen zutraut, sich selbst infrage zu stellen". Zur Wahrheit gehört aber auch, dass religiöse Glaubenssysteme selbst nicht infrage gestellt werden dürfen. Zweifeln ist Sünde und wird bestraft.

Sind heutige Gesellschaften, die noch stark religiös geprägt sind, bessere Gesellschaften? Gibt es dort weniger sexualisierte Gewalt? Wohl kaum, nicht zuletzt, weil die Geschlechter nicht gleichberechtigt sind und Sexualität tabuisiert ist, somit kein normaler Umgang damit gelernt wird. Dort sind Familienstrukturen vielleicht nicht brüchig, dafür ein Korsett aus gegenseitiger Kontrolle. Rauschmittelkonsum findet im Verborgenen statt, weil er verboten ist. Und narzisstisch selbstverliebt können religiöse Menschen auch ganz wunderbar sein – ein Narzisst bleibt ein Narzisst. Der Konsumwahn ist in durchregulierten Gesellschaften oft die einzige Möglichkeit der Freizeitgestaltung, so war es lange Jahre etwa in Saudi-Arabien.

Die Sehnsucht nach einfachen Antworten und einer Verantwortungsabnahme für selbst getroffene Entscheidungen spricht aus Maliks Zeilen. Eine Überforderung mit den Möglichkeiten unserer Zeit, die einem auch einiges an Selbstdisziplin abverlangen. Er reiht sich ein in die Kräfte, die in den USA bereits das Ruder der Macht an sich gerissen haben. Freiheit ist nicht für jeden einfach zu handeln, aber sie durch autoritäre Gedankensysteme zu ersetzen, ist keine Lösung. Wir brauchen kein Revival der Religionen, sondern sollten die Vorteile einer freiheitlichen Gesellschaft mehr zu schätzen lernen. Denn diese hat etwas hervorgebracht, was keine Religion je geschafft hat: ein zivilisiertes, friedliches, selbstbestimmtes Zusammenleben, sicherlich noch verbesserungsfähig, aber ohne Regelwerke nicht greifbarer Instanzen, die nicht diskutierbar sind und immer zum Inhalt haben, das Individuum zu gängeln. Denn mal ehrlich – ist es nicht besser, aus eigener Überzeugung bei einer Prüfung nicht zu schummeln, als nur aus Angst vor einer höheren Entität?

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1 Hier ist leider noch Luft nach oben. Die Knabenbeschneidung ist auch in vielen freiheitlichen Gesellschaften, auch in Deutschland, noch toleriert.